Letzter Versuch

Aus Bestof - das Eva Jancak Lesebuch

Letzter Versuch

In drei Monaten würde Frieda Fischer ihren neunzigsten Geburtstag feiern, wie der alten Dame am Nachmittag einfiel. Das würde ein schönes Fest geben! Martina würde es sich nicht nehmen lassen, dieses zu organisieren und es mit Sekt, Geburtstagstorte, Kerzen und einer großen Bonbonniere feierlich zu begehen. Ihre Tochter Martina, die kürzlich mit genauso großen Aufwand den Sechziger begangen hatte. Martina würde natürlich bei den Geburtstagsgästen sein und ihr Gatte Werner, wenn sich dieser nicht seiner unspezifischen Herzbeschwerden, an denen er seit einiger Zeit, mehr oder weniger intensiv litt, bei der Schwiegermutter entschuldigen ließ. Sonja und Susi, die Enkeltöchter würden sich den neunzigsten Geburtstag der Großmutter aber nicht entgehen lasen. Dreißig war die eine, fünfundzwanzig die andere alt, die ihr Medizinstudium noch nicht beendet hatte, sondern sich mit den letzten Rigorosen herumquälte, während es bei der älteren Sonja der Turnusplatz war, über den sie sich gerade ärgerte.

Das war Friedas Familie und sie würden die einzigen Gäste sein. Höchstens Fräulein Rosi würde vielleicht vorbeischauen. Fräulein Rosi, die Heimhelferin, die Martina seit einigen Jahren, dreimal in der Woche kommen ließ, damit sie Frieda das Einkaufen und das Aufräumen abnahm und sich auch sonst ein wenig um sie kümmerte.

Frieda Fischer hielt einen Teil ihrer Striezelschnitte in den Milchkaffee und seufzte auf.

Martina war eine liebevolle Tochter, die sich aufrichtig um sie kümmerte, soweit sie der kränkelnde Gatte dazu kommen ließ und der neunzigste Geburtstag war ja auch ein wichtiges Ereignis, das sah sie schon ohne Martinas Zutun ein. Wenn auch außer der Familie und Fräulein Rosi niemand kommen würde. Auch das war zu verstehen. Früher war zu den runden Geburtstagen der Bezirksvorsteher oder sogar der Bürgermeister zur Gratulation erschienen, aber seit die Menschen, dank der Errungenschaften der modernen Medizin immer älter wurden und das Geld für die Sozialausgaben knapper, wurde damit gespart und die Freundinnen gab es ja nicht mehr. Die waren in den letzten Jahren still und leise dahin gestorben und konnten nicht mehr kommen! Ihre Freundinnen Hanna, Margarete und Ruth Werner beispielsweise, die Frieda früher, ohne Martinas tatkräftige Mithilfe, Jahr für Jahr geladen hatte! Hatte sie sich doch früher die Geburtstagsfeste selber organisiert. Lang, lang war es her! Erwin hatte noch gelebt und Martina war als kleines blondlockiges Mädchen dabeigewesen.

„Einladung zum literarischen Geburtstagsfest”, hatte auf den Karten gestanden, die sie verschickt hatte, denn sie hatte sich ihr ganzes Leben lang mit der Literatur versucht. Mit zwanzig, gleich nach der Matura, hatte sie damit begonnen und auch jetzt noch nicht aufgehört, obwohl das Schreiben mit fast neunzig doch ein wenig schwierig wird, weil die Augen nicht mehr so recht mitmachen wollen und auch das Gedächtnis nachläßt und die Finger den Bleistift nicht mehr halten können, vom Eintippen in den Laptop ganz zu schweigen!

Und dann wohin mit der großen Zahl von Novellen, Romane und Erzählungen, die sich auf diese Art und Weise angesammelt hatten? Veröffentlichen haben sie sich schon früher nur schwer lassen. Die Verlage und den Erfolg, hatte sie auch früher, als sie noch danach gesucht hatte, nicht gefunden. Damals schon hatte sie sich mit dem alljährlichen Geburtstagsfest begnügen müßen, auf dem sie ihren Freunden vorgelesen hatte und natürlich Hanna, Margarete und Ruth Werner, den ebenfalls schreibenden Frauen, die sie vor sechzig oder waren es schon fünfundsechzig Jahre, in einem Arbeitskreis kennengelernt hatte, die drei Frauen, die ebenfalls geschrieben hatten und allesamt älter als sie gewesen waren, was der Grund auch war, weshalb sie nicht mehr kommen konnten.

Hanna war als erste gestorben. Ende siebzig war sie gewesen, während Frieda sich mit ihren fünfundvierzig in den besten Jahren ihres Schaffens fühlte, so stark war sie sich vorgekommen, daß sie mit der fünfzehn Jahre älteren Margarete am Grab den Nachruf gehalten und drei von Hannas Gedichten der Trauergemeinde vorgetragen hatte.

Eine Aktion, die Eindruck hinterlassen hatte! Bei ihr würde das wohl niemand tun, war ja auch Margarete inzwischen schon gestorben. Nur Martina könnte sie natürlich bitten! Als einzige Tochter würde sich Martina dazu verpflichtet fühlen, während sich Susi und Sonja nicht für Literatur interessierten und sich bei einem literarischen Geburtstagsfest womöglich entschuldigen ließen. Omas Prosatexte würden sie nicht hören wollen, da war es ein Glück, daß die Augen und die Stimme nicht mehr dazu taugten, öffentlich vorzulesen. Und da der Bürgermeister und der Bezirksvorsteher ohnehin nicht kommen würden und sich das Kulturamt für ihr literarisches Schaffen nicht sehr interessierte...

Früher hatte sie es oft genug versucht und immer wieder zu den Stipendienterminen ihre Texte hingeschickt. Leider war sie nie einer Jury aufgefallen und irgendwann hatte sie damit aufgehört, ihre Texte hinzusenden.

Weil es einen schlechten Eindruck machen würde, würde sie es an der Schwelle des Todes auch nicht mehr tun! Obwohl-, jetzt blitzte ein schelmisches Lächeln in den Augen der alten Dame auf, die das Milchbrot gegessen und das Häferl geleert hatte. Langsam stand sie auf und trug es in die Abwasch und ging in das kleine Zimmer hinüber, das ihr, als sie noch berufstätig gewesen war, als Praxiszimmer gedient hatte.

Heute lagerten dort, neben längst veralteten Fachbüchern, ihre Texte in den Regalen. Frieda Fischers gesammelte Werke! Wenn man mit zwanzig zu schreiben begonnen hat und mit neunzig noch nicht wirklich damit aufgehört, hat sich einiges angesammelt! Ein ansehnlicher Nachlaß war es geworden, den sie Martina vererben würde.

Mit siebzig oder achtzig bekommen die großen Meister der Literatur ihre Staatspreise, Verdienstkreuze und Ehrenabzeichen! An Frieda Fischer war auch das vorbeigegangen. Sie würde nun bald neunzig und würde die nicht mehr bekommen, obwohl-, da war das schelmische Lächeln schon wieder auf der Greisin Lippen, sie natürlich keiner hindern konnte, dem Kulturamt ihren Geburtstag mit Textproben und Lebenslauf bekannt zu geben!

Ein literarisches Geburtstagsfest würde sie keines mehr veranstalten, weil ihr außer Martina keiner mit ehrlichem Herzen zuhören würde und Martina kannte der Mutter Texte schon, war sie als kleines Mädchen immer ja dabeigewesen, wenn Frieda im Literaturhaus oder in der alten Schmiede gelesen hatte.

Also kein literarisches Geburtstagsfest, stattdessen mit Sekt anstoßen und ein Stück Torte essen. Zum Glück hatte sie den Altersdiabetes, an dem ihr Vater und ihre Großmutter gelitten hatten, doch nicht geerbt oder sie hatte vielmehr auf sich geschaut und schon mit vierzig begonnen Diät zu halten und mit neunzig war es schon egal! Mit neunzig konnte sie sich, die von Martina liebevoll gebackene Schokoladetorte mit ruhigem Gewissen schmecken lassen. Anstoßen mit der Tochter und den Enkelkindern, sich einen kleinen Schwips antrinken und die Literatur im ehemaligen Praxiszimmer liegen lassen?

Da waren ja ihre gesammelten Werke. Ihre Novellen, Romane und Erzählungen, die meisten davon waren unveröffentlicht geblieben. Nur ein Roman war vor Jahrzehnten in einem Kleinverlag erschienen und in einigen Anthologien gab es Auszüge ihrer Texte, die Frieda gesammelt hatte. Sie verfügte auch über vollständige Publikationslisten und Werkverzeichnisse. Bis zuletzt war sie akribisch darum bemüht gewesen, alles zu archivieren. Sie konnte also dem Kulturstadtrat ein vollständiges Verzeichnis ihrer literarischen Arbeiten schicken.

„Sehr geehrter Herr Doktor! Anläßlich meines 90. Geburtstages, erlaube ich mir, Sie an mein literarisches Ouvre zu erinnern!”

Genauso könnte sie dem Kulturamt schreiben und Textproben beifügen. Auch wenn man mit neunzig schon langsam geworden ist und die Finger nicht mehr so recht nachkommen, war sich Frieda Fischer sicher, daß sich schon einiges finden ließe. Sie brauchte nur Fräulein Rosi bitten, das Kuvert auf die Post zu tragen oder es Martina bei ihrem nächsten Besuch mitgeben.

Es konnte den Versuch Wert sein, Bilanz zu ziehen, die Texte, die sich in den letzten siebzig Jahren angesammelt hatten, noch einmal wegzuschicken, bevor sie sie Martina vererben würde!

Ein letzter Versuch, den Stadtrat für Kultur auf sich aufmerksam zu machen! Wieder glitt so etwas, wie ein leises Lächeln über das faltige Altfrauengesicht.

Die Ausstellung war ihr eingefallen, die sie vor Jahren mit ihren schreibenden Freundinnen besucht hatte. Damals war auch das Lebenswerk einer Dichterin gefeiert worden. Rose Ausländers Lebenswerk war in der Nationalbibliothek präsentiert worden. In vielen prägnanten schwarz-weiß Fotografien war ihr Lebensweg nachgezeichnet worden. Die Portraits des Kindes, der jungen und der immer älter werdenden Frau, zuletzt war es die Greisin gewesen, die ihr Bett nicht mehr verlassen wollte, dazwischen gab es biographische Notizen und viele Gedichte!

Frieda Fischer sah sich in dem ehemaligen Praxiszimmer um, kritisch ließ sie ihre Blicke durch den kleinen Raum schweifen. Wahrscheinlich waren es die prägnanten schwarz-weiß Fotografien die fehlten, um eine solche Ausstellung zu gestalten und auch die Gedichtform ging ihr ab. Ihre umfangreicheren Erzählungen, Romane und Novellen ließen sich nicht auf engen Raum präsentieren, sonst könnte sie den Kulturstadtrat zu einer Ausstellung in das ehemalige Praxiszimmer bitten.

Wieder lächelte die alte Frau, ob ihrer Eitelkeit. Nein, es war schon besser, Martina einmal das ganze Textkonvolut zu hinterlassen.

Blieb nur die Idee, ob sie dem Kulturstadtrat ihren neunzigsten Geburtstag bekanntgeben sollte? Eigentlich sollte der doch mit einer Ehrung, einer Feier oder einer Auszeichnung reagieren, so war es jedenfalls bei den berühmten Söhnen dieser Stadt!

Wieder lächelte die alte Frau. Da war sie nun fast neunzig und noch immer eine unverbesserliche Feministin, wahrscheinlich viel mehr als Martina und die beiden Enkeltöchter!

Der Kulturstadtrat hatte wohl aber nie etwas von einer Frieda Fischer gehört, hatte sie ja kaum einmal einen größeren Preis zuerkannt bekommen. Da war es schon unbescheiden, wenn sie mit neunzig an seine Türe klopfte, wo aber stand geschrieben, daß man mit neunzig Bescheidenheit üben mußte?

Das Lächeln der alten Dame, die jetzt in ihren Texten blätterte, verstärkte sich noch mehr. Da sie nicht wußte, ob ihr die Gnade eines fünfundneunzigsten oder gar hundertjährigen Geburtstagsfestes beschieden sein würde, war es an der Zeit!

Wenn nicht jetzt, ergab sich die überhaupt nicht mehr! Jetzt für sich selber sorgen, wenn es schon dem Kulturstadtrat nicht einfiel!

Also nach ihren Werkverzeichnissen und der Brille suchen und den Brief verfaßen! Ihre Finger zitterten, der Atem ging ein wenig keuchend, ob der ungewohnten Anstrengung. Sie war diese Arbeit nicht mehr gewöhnt!

Daher froh über die Ablenkung, als es an der Wohnungstüre läutete. Wer konnte das sein? Richtig, es war Donnerstag, sechzehn Uhr! Fräulein Rosi kam zu ihrer Heimhilfestunde. Die Gelegenheit war günstig. Sie konnte, während das junge Mädchen Staub saugte und die Einkäufe auspackte, das Kuvert vorbereiten, dachte Frieda Fischer und humpelte zur Wohnungstür.

„Grüß Gott, Frau Fischer!” sagte Fräulein Rosi laut und fröhlich, wie sie das in ihrem Ausbildungskurs gelernt zu haben schien.

„Ich habe jemanden mitgebracht. Das ist meine Freundin Brigitte. Ich habe ihr erzählt, daß sie so schöne Geschichten schreiben! Brigitte muß für ihre Altenpflegeschule eine Arbeit zum Thema "Animation und oral history" schreiben. Sie wird Ihnen gleich erzählen, was das ist. Da habe ich an Sie gedacht. Sie könnten Brigitte Ihre Geschichten zeigen. Das ist auch für Sie eine Abwechslung. Darf ich sie hereinlassen und Sie bitten, ihr zu helfen, während ich ein wenig aufräume. Ich koche gerne Tee, damit das Erzählen leichter geht!”

„Ja”, antwortete Frieda Fischer und lächelte noch immer.

Animation, nennt sich das, dachte sie dabei. Das ist auch eine Lösung! Dem Kulturstadtrat werden meine Erzählungen nämlich nicht wirklich interessieren und Sonja und Susi, die auf ihre Spitalsausbildung warten, auch nicht! Fräulein Brigitte aber ist auf mich angewiesen! Oral history, nennt sich das? Da hast du wieder etwas gelernt und auch, daß man bescheiden bleiben soll! In Fräulein Brigittes Seminararbeit aber kann meine Eitelkeit, eine letzte Würdigung erfahren.

„Also bitte, liebes Fräulein, kommen Sie herein! Ich helfe Ihnen gern!”


Alfred Nagl
Last modified: Thu Mar 23 23:28:19 CET 2006