Zwillingswelten

„Katharina und Lisbeth sind Zwillingsschwestern, die mit 60 vor einer entscheidenden Veränderung stehen, nämlich am Beginn der Pension, die eine nach ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin; die andere als Bibliothekarin, die aufgrund des letzten Auftrags ihres vor kurzem verstorbenen Liebhabers die lange Liste ihrer noch ungelesenen Bücher ins Netz gestellt hat, über deren Lektüre sie laufend berichtet, wohl auch, um sich durch solche Lebenszeichen von ihren Depressionen abzulenken und sich öffentlich ans Leben zu binden.

Katharina, die beruflich den helfenden Umgang mit Menschen gewohnt ist, beginnt den neuen Lebensabschnitt mit einer Fahrt nach Linz zum Begräbnis ihrer Mutter. Eine Nachbarin hat sie von deren Tod informiert hat, nachdem sie 30 Jahre nichts von sich hören ließ.

Währenddessen hat sie genug Zeit, sich insistierend und detailgenau an Episoden aus den Fallberichten über zwei ehemalige Klientinnen – Martha und Lenka, die zu ihren Hauptfreundinnen geworden sind – zu erinnern. Obwohl sie aus desolaten Verhältnissen stammen und im Heim aufgewachsen sind, sind sie erfolgreiche Frauen geworden: die eine als Kinderärztin, die andere als Krimischriftstellerin, deren Einladung nach Sizilien Katharina nun folgt.

Die dreiteilige Erzählung endet in Linz, und zwar nicht so, als wäre sie tatsächlich vom Leben geschrieben worden, also mit einer Katastrophe, sondern macht deutlich, dass sich schlimme Familiengeschichten, angeschoben von einigen Zufällen, auch enträtseln und einen versöhnlichen Schluß finden können.“

E. A. Richter

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

2. Friedhof der ungelesenen Bücher

Als Lisbeth nach Hause kam, fand sie Katharinas Nachricht auf ihrem Handy vor.

„Richtig!”, dachte sie, stellte die Schuhe auf die Abtropftasse und zog die dunkle Jacke aus. Jetzt trug sie noch einen schwarzen Rock, die schwarze Bluse und solche Strümpfe. Passend für das Begräbnis ihrer Mutter zu dem Katharina gefahren war und wahrscheinlich wissen wollte, ob sie es bereute nicht mitgekommen zu sein?

Sie tat es nicht und hatte das auch Katharina mitgeteilt, bevor sie auf den Zentralfriedhof gefahren war.

„Ich will mir das nicht zumuten!”, hatte sie geSMSst und sich mit ihren Büchern ausgeredet.

„In der Pension werde ich sie ordnen und mir die ungelesenen vornehmen!”, hatte sie bei der Abschiedsfeier den Kollegen versprochen und das Sektglas hoch gehoben. Die hatten mit ihr angestoßen und sie wissen lassen, daß sie das ebenfalls planten, wenn es bei ihnen so weit wäre. Aber Konrad Steiniger war erst fünfunddreißig und Svetlana Radic noch ein bißchen jünger. Beide hatten noch viel Zeit und ihr mit feierlicher Gebärde, das zuletzt erschienene Buch von Peter Handke überreicht. Eigentlich war es das Vorletzte, denn, daß inzwischen ein neuer „Handke” erschienen war, hatte sie im Radio gehört. Die Kollegen hatten es gut gemeint und eine Rede gehalten, daß dieses Buch hervorragend zu der ehemaligen Bibliothekarin passte denn sie war ja Germanistin. Auch wenn sie nie als solche gearbeitet hatte, hatte sie das Fach studiert und eine Dissertation über Peter Handke verfaßt.

„Da kannst du mit dem Lesen beginnen, wir werden dafür sorgen, daß du nicht so bald fertig wirst!”, hatte Konrad Steiniger, der ihr in der Leitung nachfolgte, launig versprochen. Dann hatte er ihr eine Ehrenlesekarte in die Hand gedrückt und hinzugefügt, daß er hoffe, die sehr verehrte ehemalige Chefin bald unter den Entlehnern begrüßen zu dürfen. Sie hatte gehofft, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie das nicht plante und die Filiale in der Stumpergasse seither nicht mehr betreten.

„Aus den Augen aus dem Sinn!”, so hieß es doch. Sie hatte vor den neuen Lebensabschnitt mit der berühmten Veränderung zu beginnen. Das waren ihre dreitausend Bücher, die in den zweieinhalb Zimmern ihrer Wohnung lagerten. Sich eine Liste ihres Friedhofs der ungelesenen Bücher zulegen, um bei ihrem schwarzen Rock und den ebenso gefärbten Strümpfen zu verbleiben.

„Es war Richards Idee gewesen!”, dachte sie und konnte nicht verhindern, daß Tränen in ihre Augen traten. Richard hatte sie dazu gebracht und war auch Schuld daran, daß sie die letzten drei Monate zu keinem Katalog gekommen war und kein einziges Buch in Händen gehalten hatte. Stattdessen war sie im Hospizzentrum der barmherzigen Brüder gesessen und hatte ihm beim Sterben zugeschaut. Jetzt rannen wirklich Tränen über ihre Wangen, ließen sich nicht aufhalten und nicht kontrollieren. Sie wollte es auch nicht. Am Zentralfriedhof hatte sie es noch geschafft, die trauernde Witwe schluchzen lassen und ihr, nachdem sie die drei blaßrosa Rosen und das Schäufelchen mit Erde in den Sarg geworfen hatte, die Hand gereicht.

„Es tut mir leid!”, hatte sie geheuchelt und die Tränen zurückgehalten. Lore und den beiden Kindern an der Seite, die dreißig Jahre der Grund gewesen waren, warum Richard, obwohl er es gerne wollte, nicht zu ihr stehen konnte und sie immer nur als gute Mitarbeiterin ausgegeben hatte, während die Kollegen über die heimliche Geliebte getuschelt hatten. Das war es auch, warum sie, als die Hauptbücherei übersiedelt war, nicht mitging, sondern sich versetzen ließ. Richard hatte ihr die Leitung in der Stumpergasse verschafft und immer unglücklich über die Umstände ausgesehen, die verhindert hatten, daß die beiden Königskinder zusammenkommen konnten. Das war ihnen verwehrt geblieben, obwohl sie sicher war, daß sie sich in Richard verliebt hatte, als sie ihm das erste Mal gegenüberstand. Umgekehrt war es genauso gewesen, da gab es keinen Zweifel. Aber Richard war verheiratet. Hatte zwei Kinder und eine Hausfrau, die von ihm abhängig war und sich nicht scheiden lassen würde. So war sie dreißig Jahre die heimliche Geliebte gewesen. Niemand hatte von ihrem Verhältnis gewußt. Nicht ihre Zwillingsschwester und auch nicht Lore Haider, obwohl sie, als sie ihr am Grab die Hand gegeben hatte, nicht mehr so sicher war. Denn Lore hatte sie mit einem Blick gemustert, in dem die Wahrheit gelegen war und es war auch nicht wirklich zu verbergen. Hatte sie doch die letzten drei Monate auf der Hospizstation verbracht und war nur hinausgegangen, wenn Lore und die Kinder auf Besuch kamen. Richard hatte auch da von der lieben Kollegin gesprochen, die ihm die Zeitung vorlas und mit ihm über Bücher diskutierte, um das elende Leben in das der Krebs ihn gestürzt hatte, zu ertragen. Lore und die Kinder hatten getan, als würden sie es glauben. Der Blick mit der Lore sie vor ein paar Stunden gemustert hatte, zeigte aber, daß sie aufgehört hatte, dagegen anzukämpfen.

„Es tut mir so leid!”, hatte Lore Haider zurückgegeben und mit demselben Blick „Vielen Dank!”, hinzugefügt. Dann hatte sie gefragt, ob sie zum Leichenschmaus mitkäme? Ein Platz sei für sie reserviert. Richard, da wäre sie sicher, würde sich das wünschen. Lisbeth hatte den Kopf geschüttelt und war in die Wohnung gefahren, um am Display ihres Handies zu ersehen, daß Katharina in Linz angekommen war.

#132;Schlaf gut, liebe Schwester, ich werde dir von dem Begräbnis berichten!”, hatte sie geSMSst und Lisbeth dachte, daß Katharina sicher wissen wollte, ob es ihr nicht leid tat, daß sie nicht mitgekommen war? Tat es nicht, absolut und überhaupt. Ein Begräbnis in der Woche reichte. Daß sie an Richards Grab gestanden war, den sie die letzten dreißig Jahre fast jeden Tag gesehen hatte, war selbstverständlich. Die Mutter hatte sie dagegen dreiunddreißig Jahre nicht gesehen. Da hatte sie sich vom Vater scheiden lassen und sich in Linz eine Katze zugelegt, der sie ihr Vermögen vererbte, was lächerlich und peinlich war. Sie hatte keine Lust sich von der Nachbarin und einem Notar genauso mitleidig gemustert zu werden, wie es Lore und Richards Kinder vorhin taten.

„Das muß doch einen Grund haben, warum sie ihre Töchter enterbt hat!”, würden sie tuscheln und wenn sie auch hinzufügen würden, daß die Mutter diese Katze offenbar sehr lieb gehabt hatte, fehlte trotzdem der Beweisnotstand. Denn Lisbeth hätte als Kind gerne eine Katze besessen. Die Mutter hatte es verhindert und so war sie so katzenlos aufgewachsen, wie ihre Zwillingsschwester. Katharina war das egal gewesen. War die doch immer die Robustere. Fuhr zum Begräbnis, während sie sich das nicht zumuten wollte. Ein Begräbnis war genug, das war aber etwas, das sie Katharina nicht erzählen konnte. Denn es wußte ja niemand, das Richard mehr als ihr Vorgesetzter gewesen war. Das war ihr Geheimnis, das sie dreißig Jahre vor der Schwester verborgen hatte, die sie sicher für neurotisch oder für eine alte Jungfer hielt. Daß es einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte, hatte sie ihr nie zugetraut. Sie konnte es ihr auch nicht verdenken, denn sie hatte es nie erzählt, sondern die Singlefrau gespielt und alleine hatte sie tatsächlich ihr ganzes Leben gelebt oder auch nicht. Richard hatte sich öfter von seinen Dienstreisen einen oder zwei Tage abgezwickt, die er mit ihr verbrachte. Wenn Lore auf Kur gewesen war, war er auch zu ihr gekommen. Eigentlich gab es in der Wohnung vieles, das sie an ihn erinnerte.

Da waren sie schon wieder die Tränen, die ihr die Wangen hinunterrannen. In der Küche, in der sie sich eine Kanne Tee aufbrühen wollte, erinnerte das rote Keramikhäferl, aus dem er immer getrunken hatte, an ihn. Im Schlafzimmer gab es seinen Pyjama, im Bad eine Zahnbürste und einen Rasierapparat. Alles war vorhanden, obwohl sie es wegschmeißen hätte können, weil die letzten Monate klar gewesen war, daß er es nicht mehr benutzen würde. Dreißig Jahre hatte er ihre Hand gedrückt, sie gestreichelt und „Verzeih mir, Liesel, ich weiß, ich bin ein Feigling. Ich sollte mich von Lore scheiden lassen und zu dir ziehen und habe keine andere Entschuldigung, als daß wir Männer keine Helden sind!”, zu ihr gesagt. So war es auch gewesen. Denn die Mutter hatte vor dreiunddreißig Jahren keine Bedenken gehabt und ihr und Katharina vorexerziert, daß man sehr wohl seine Kinder und seinen Ehemann verlassen kann. Aber sie waren erwachsen gewesen, was Oliver und Selma damals nicht waren. Nur der Vater hatte am Verlust der Mutter gelitten, während Richard, das von Lore vermutete und sie noch in der letzten Woche, als liebe Kollegin ausgegeben hatte, wenn eine Turnusärztin oder Pflegehelferin sie für die Gattin hielt.

„Verzeih mir, Liesel!”, hatte er sich danach entschuldigt.

„Ich weiß, ich bin ein Egoist!”

Sie hatte den Kopf geschüttelt und verziehen, denn inzwischen war es ihr egal. Sie hätte ihn nicht mehr geehelicht, wie er ihr manchmal voller Hoffnung versprochen hatte und es sich auch wirklich wünschte.

„Wenn mich die Lore nicht mehr braucht, werden wir heiraten und unsere späten Jahre gemeinsam verbringen!”, hatte er öfter versprochen und auch die Idee mit den Büchern in ihren Kopf gepflanzt, den sie gemeinsam, wie Philemon und Baucis auflesen würden. Dann war er ein halbes Jahr vor ihrer Pensionierung an Hodenkrebs erkrankt. Lore hatte ihre Bandscheiben operieren und ihn auf die Hospizstation verlegen lassen, weil sie ihn nicht betreuen konnte.

„Das wäre schön, wenn ich die letzte Zeit bei dir verbringen könnte, aber das will ich dir nicht zumuten!”, hatte der Feigling zu ihr gesagt. Sie hatte genickt und war ab dem ersten Tag ihrer Pensionierung in der Hospizstation aufgetaucht und nur aus dem Zimmer gegangen, wenn Lore oder die Kinder auf Besuch kamen. Zweimal in der Woche hatte das die liebende Gattin getan, die Kinder waren noch seltener erschienen. Richard hatte sie als liebe Kollegin vorgestellt, die ihm vorlesen würde. Lore hatte ihr gedankt und getan, als würde sie es glauben und so war Lore Witwe geworden, während die Kollegin überblieb und trotzdem einen Ring am Finger trug, auf der rechten Seite, den sie jetzt auf die linke Hand steckte.

„Das ist unser Ehering, Liesel! Verzeih mir, daß ich so feige bin, keinen Standesbeamten oder Priester zu bestellen. Da ich aber bestimmt nicht mehr solange lebe, bis die Scheidung durchgeführt ist, würden uns die nicht trauen. So müssen wir es heimlich tun!”, hatte er gesagt, sie geküßt und dabei geweint. Lisbeth hatte sich den Ring an den Finger stecken lassen und dachte, während sie das heiße Wasser in das rote Häferl rinnen ließ, daß Lore den Ring gesehen haben mußte. Sie hatte nichts gesagt. Aber gewußt, daß Lisbeth die zweite Witwe war, die illegale und die andere. Immer war sie die Zweite in ihrem Leben. Bei ihrer Geburt war sie der Zwillingsschwester auch als zweite nachgefolgt und immer etwas labiler als sie gewesen. Katharina war die tüchtige Sozialarbeiterin, die lange mit einem Musiker zusammengelebt hatte. Sie war dagegen als promovierte Germanistin in die Bücherei gegangen, weil man ihr im Stadtschulrat von einer Anstellung als Lehrerin abgeraten hatte.

„Dafür scheinen Sie nicht energisch genug, sich bei den Kindern durchzusetzen, Frau Doktor!”, hatte man gesagt und ihr eine Bibliothekslaufbahn empfohlen. Dort hatte sie sich in Richard verliebt und war zu spät gekommen, weil er schon drei Jahre verheiratet war und zwei Kinder hatte. Ihr ganzes Leben war sie die heimliche Braut und alte Jungfrau geblieben, die Witwe ohne Trauschein und liebe Kollegin. Die Mutter, die so stark gewesen war, den Vater zu verlassen, hatte ihre Töchter enterbt. Katharina schien das nicht viel auszumachen, erklärte ihre Pensionierung mit der Fahrt zum Begräbnis zu beginnen und sie hatte von einer Depression und Einsamkeit der Mutter gesprochen. Dabei war sie selber depressiv und einsam. Jetzt war sie auch allein. Allein mit dreitausend Büchern. Wenn sie in den Supermarkt ging, um Milch und Brot zu besorgen, würde sie den Pyjama, die Zahnbürste und den Rasierapparat in den Mistkübel werfen. Oder nein, das würde sie behalten und als Erinnerung aufbewahren. Die Zahnbürste genauso, wie den Ehering, den er heimlich von einer Krankenschwester ins Hospizzimmer schmuggeln hatte lassen. Den Ring würde sie nicht hergeben, auch wenn sie keinen Trauschein besaß. Sie würde ihn tragen, der Schwester aber nichts erzählen. Auch nicht, daß sie schon auf einem Begräbnis gewesen war, also zu keinem zweiten fahren brauchte. Nur von den Büchern würde sie ihr schreiben, die sie lesen wollte. Wenn sie damit fertig war, konnte sie die Welt verlassen, weil dann alles erledigt war und es nichts mehr für sie zu tun gab. Das würde sich die Zwillingsschwester wahrscheinlich denken, die sie sicherlich für depressiv und neurotisch hielt. Würde glauben, daß sie sich mit dem Lesen ihrer Bücher aus der Welt verabschieden wolle, weil es keine Aufgabe für sie mehr gab.

„Tat es auch nicht!”, dachte Lisbeth trotzig und merkte, wie die Tränen die Bluse und den Rock zu durchnässen begannen, so daß sie ins Schlafzimmer hinüberhuschte, um sich Richards blau-karierten Pyjama zu holen, den sie fortan tragen würde und nur die Zahnbürste wegschmeißen, weil man fremde Zahnbürsten nicht benützen soll. Aber auch daran brauchte sie sich nicht zu halten. Den Rasierapparat in den Badezimmerschrank legen und den Pjyama tragen, wie den Ehering am Finger und den Schnappschuß, das letzte Bild von ihm, auf ihr Bücherregal stellen. Er sollte ihr beim Sortieren zusehen. Wenn die Bücher gelesen waren, würde sie ihm folgen. Das war es, was sie ihm drei Stunden vor seinem Tod, versprochen, was er ihr abgepreßt hatte.

„Versprich mir, Liesel, es zu tun!”, hatte er mit heiserer Stimme von ihr gefordert, dabei war seine Stirn heiß gewesen, seine zittrige Hand hatte die ihre fest umklammert.

„Versprich mir, Liesel, das zu tun!”, hatte er gekeucht und ihr wohl ihre Absicht, sich in der leeren Wohnung zu erhängen oder sich im Badezimmer die Pulsadern aufzuritzen, von der Nasenspitze abgesehen.

„Versprich es mir!”

Sie hatte genickt und würde ihr Versprechen halten. War sie ja eine gewissenhafte Person, die nie ein solches gebrochen hatte. Er hatte ihre Hand geküßt und schien nicht zu merken, daß sie dachte, daß es nicht so lange dauern könne, bis die Bücher gelesen waren. So viele würden es nicht sein. Solange konnte sie warten. Hatte sie doch dreißig Jahre auf ihn gewartet und war in dieser Kunst geübt. Danach würde sie ihm folgen. Dann hatte sie nichts mehr auf der Welt verloren. Eigentlich könnte sie es auch beschleunigen, denn wenn sie in der Nacht einschlief und am Morgen nicht mehr erwachte, hatte sie kein Versprechen gebrochen. Bis dahin würde sie sich die Bücher vornehmen, die sie gar nicht interessierten. Da sie nur die Zahnbürste entsorgen wollte, brauchte sie auch nicht einkaufen. Das hatte sie Richard nicht versprochen. Also konnte sie zum Frühstück den Tee trinken, der sich in der Kanne befand oder einen Löffel Assam aus der bemalten Dose in die Kanne leeren und dabei ihre ungelesenen Bücher erfassen. Damit Katharina ihren guten Willen sah, würde sie sie auf ihre Homepage stellen. Das konnte sie ihr schreiben, damit sie beruhigt war und nicht mehr nach dem Begräbnis fragte. Nach Richards Begräbnis würde sich Katharina nicht erkundigen, hatte sie ihn ja nicht gekannt und keine Ahnung welche Rolle der ehemaliger Chef in Lisbeths Leben spielte. Eigentlich war das ein Klischee. Der Herr Direktor und die Bibliothekarin, denn Sekretärin war sie genauso wenig gewesen, wie Lehrerin. Schließlich selber Leiterin einer viel kleineren Filiale, die außer ihr nur zwei Mitarbeiter hatte. Jetzt wurde sie aus Einsparungsgründen überhaupt nur noch von Konrad und Svetlana betrieben.

Der Tee schmeckte gut und da sie Richard versprochen hatte, erst ihre Bücher zu lesen, bevor sie ihm folgte, um, wie die Sterne am Himmel in Zukunft vereint sein, konnte sie ihn trinken und auch einkaufen gehen, wenn sie das wollte. Vorläufig wollte sie es nicht. Nichts als in Richards Pyjama vor dem Bücherregal sitzen und morgen im Pyjama die Liste erstellen. Jetzt würde sie, wie immer alleine schlafengehen. Denn sie war ja Junggesellin, keine Witwe und hatte das SMS an Katharina abgeschickt.

„Gute Nacht, liebe Schwester!”, hatte sie geschrieben und wiederholt, daß sie ihre Pensionierung mit dem Ordnen ihrer Bücher und nicht mit einer Reise beginnen wollte.

„Dir wünsche ich alles Liebe!”, formulierte sie höflich, wie sie es ihr ganzes Leben gewesen war und konnte nicht verhindern, daß die Tränen immer noch über ihre Wangen kullerten, aber die konnte Katharina nicht sehen. Nur Richard, der vom Bild zu ihr hinüberlächelte, schüttelte aber nicht den Kopf und schaute auch nicht traurig, denn es war ein Sommerbild, das wahrscheinlich von Lore aufgenommen worden war. Er durfte ihre Tränen auch sehen, denn sie würde sich nicht mehr verstellen, auch wenn sie ihm geschworen hatte, nicht sofort nachzufolgen und nicht traurig zu sein. Manche Versprechen waren Lügen und ließen sich nicht halten. Da würde sie sich kein schlechtes Gewissen machen. Nur, weil sie sich als Kind eine Katze wünschte, war sie nicht schuld am Tod der Mutter und auch daran nicht, daß diese alles einer Katze hinterlassen hatte, die sie als Kind nicht haben durfte.

Als Lisbeth am nächsten Morgen in Richards Pyjama in die Küche kam, war es nicht besser geworden, so daß sie am liebsten ins Bett zurückgeflüchtet wäre. Richard fehlte ihr und wahrscheinlich auch die städtische Büchereifiliale, in die Schulkinder und alte Frauen kamen, um sich den neuesten Harry Potter oder einen alten Agatha Christie Krimi auszuleihen. Sie hatte wahrscheinlich einen Pensionsschock, der ihr die letzten drei Monate, als sie Richard vorgelesen hatte, nicht aufgefallen war. Jetzt polterte ihr die Decke so intensiv auf den Kopf, daß sie am liebsten ins Bett zurückgeflüchtet und nicht mehr aufgestanden wäre, wie die fünf Wünsche einer depressiven Frau gelautet hatten, die sie einmal in einem Buch gefunden hatte. Am Abend ins Bett zu steigen und am Morgen nicht mehr aufwachen. Mit der Decke überm Kopf aus der Welt flüchten. Einfach liegen bleiben und sich totstellen, war sicherlich viel besser, als mit einem Strick auf den Dachboden schleichen und sich dort erhängen, obwohl das, Josepha Stock, die einsame Heldin aus dem Buch, als wirksamste Methode empfohlen hatte. In ihrem Haus hatte es aber keinen Dachboden gegeben und Lisbeth hatte ebenfalls nicht vor sich auf diesen zu begeben. Gar nichts hatte sie vor, wie das in der depressiven Antriebslosigkeit, in der sie sich zu befinden schien, so war. Sie wunderte sich ein bißchen, wie es die anderen Depressiven schafften, auf den Dachboden oder mit dem Messer in die Badewanne zu kommen? Sie konnte das nicht, denn sie hatte sich die ganze Nacht in ihrem Bett gewälzt und an Richard gedacht. Wenn es ihr doch gelungen war, ein wenig einzuschlafen, hatte sie von ihm geträumt. Richard ging ihr ab und die Bücherei. Hatte beides doch die letzten dreißig Jahre ihres Lebens bestimmt. Beides hatte sie verloren, wie die Mutter sie verlassen hatte, aber das war egal. Mit Siebenundzwanzig braucht man keine Mutter, während sie mit Sechzig Richard brauchte, der sie trotzdem verlassen hatte. Gern hatte er es nicht getan, sondern Tränen in den Augen gehabt, als er ihr den Ring an den Finger streifte und geflüstert hatte „Ich glaube, es ist bald soweit, sei nicht traurig, liebe Liesel!”

Da war sie stark gewesen und hatte nicht geweint. Jetzt, wo sie es durfte, konnte sie nicht. Ihre Augen hatten keine Tränen mehr. Die waren gestern bis weit nach Mitternacht aus ihr herausgeflossen. Geholfen hatte es nicht. Sie hatte keine Ahnung, warum sie mit nackten Füßen in Richards blauem Pyjama in der Küche stand und die Wand anstarrte. Den Pyjama würde sie nicht ausziehen, nie mehr! Sie würde auch nicht einkaufen, denn im Pyjama verließen nur die Verrückten und die Alzheimerpatienten die Wohnung und das war sie beides nicht. Nur ausgebrannt und allein. Eine Pensionistin, die die Büchereifiliale in der Stumpergasse nur mehr mit einem Entlehnausweis betreten konnte. Aber dort ging sie nicht hin. Hatte sie ja in ihren Zimmer dreitausend Bücher, von denen sie viele nicht gelesen hatte, die sie sortieren wollte. Wollte sie das wirklich? Sie wollte nicht und auch nicht frühstücken, sondern in die Erde versinken, sich in Luft auslösen oder in den Himmel fliegen, auf die Wolke, wo Richard sie erwartete. Das war verrückt und Richards Bild, im Bücherregal würde sie jetzt sicher mahnend mustern und den Kopf schütteln.

„Laß dich nicht so gehen, liebe Liesel, das darfst du nicht, du hast es mir versprochen!”, hörte sie ihm mit heiserer Stimme flüstern, denn die war ihm in den letzten Tagen seines Lebens ausgegangen.

„Mach dir ein gutes Frühstück, zieh dich an, putze deine Zähne und erstelle deine Bücherliste. Eine Bibliothekarin sollte alle ihre Bücher kennen. Damit hast du zu tun und brauchst nicht traurig sein!”, versuchte er sie pädagogisch zu manipulieren.

Das würde sie so machen oder auch nicht. Den Pyjama würde sie anlassen und nicht einkaufen gehen. Denn Richard konnte das nicht sehen, lag er ja unter der Erde am Zentralfriedhof und war nicht in ihrem Zimmer. Die Stimme in ihrem Kopf war nichts als Einbildung und das hatte sie ihm auch nicht versprochen. Daß sie die Bücher lesen würde, das andere nicht. Tee würde sie aber kochen und im Brotkorb nachschauen, ob sie noch etwas von dem Striezel fand, den sie beim letzten Einkauf besorgt hatte. Ein großes Stück war davon noch übrig. Sie war zwar nicht hungrig, ihr ganzes Leben aber diszipliniert gewesen, das legt man auch im Alter nicht ab. Die Zähne würde sie sich putzen, mehr nicht. Das waren alle Zugeständnisse zu denen sie fähig war, als sie mit leeren Augen am Küchentisch saß und beinahe automatisch die Striezelbrocken in den Mund stopfte, die ihr nicht schmeckten, es war auch egal. Sie brauchte keine Kräfte und wollte keine Bücher lesen, hatte das Richard aber blöderweise versprochen und auch Katharina ein solches Mail geschickt. Also die Teekanne in das Zimmer schleppen, in dem an drei Wänden Bücherregale standen, an der vierten gab es ein paar Zimmerpflanzen. Den Urwald in ihrer Wohnung würde sie gießen. Die Pflanzen konnten nichts für ihre Stimmung und Richards Bild auf dem Bücherregal nickte ihr auch freundlich zu.

„Guten Morgen, liebe Lisel, du schaffst es und wenn du unbedingt im Pyjama bleiben willst, ist das erlaubt, hast du mich die letzten Monate meist auch in einem solchen gesehen oder in dem häßlichen Trainingsanzug, der an die DDR erinnerte. Zu Hause braucht man kein Businesskostüm, deine Bücher solltest du aber katalogisieren. Du hast dich doch dafür interessiert, bist eine bibliophile Libromanin, hast Germanistik studiert und kennst dich aus! Kopf hoch, Liesel, laß dich nicht unterkriegen, das Leben geht weiter, du bist noch nicht so alt und im Gegensatz zu mir kerngesund!”

Richard hatte keine Ahnung, aber die Tränen waren wieder da. Sie konnte weinen, was besser war und wenn er ihr erlaubte, den Pyjama anzubehalten, brauchte sie kein schlechtes Gewissen haben, daß sie sich gehen ließ. Sie hätte ihn ohnehin nicht ausgezogen. Richard war tolerant. Die Mutter war das nicht gewesen, die hätte diese Schlamperei nicht geduldet. Hatte auch am Sonntag und in den Ferien von ihren Töchtern verlangt, bekleidet am Frühstückstisch zu erscheinen. Aber die Mutter hatte sie schon lang verlassen und würde morgen begraben werden. Vielleicht sollte sie sich aufraffen und im Pyjama oder angezogen, nach Linz fahren, weil das von einer guten Tochter so erwartet wird? Das war sie immer gewesen, trotzdem hatte die Mutter sie enterbt. Sie würde hierbleiben und hätte es ohnehin nicht zum Bahnhof geschafft. Die Bücher in den Katalog eintragen, damit sie sie lesen konnte und bald bei Richard war. Da würde sie die Ersparnisse der Mutter ohnehin nicht brauchen. Die Katze konnte alles haben, auch wenn das lächerlich klang. Vollkommen lächerlich, aber so war das Leben. Ein weites Land und unverständlich, das hatte nicht nur Arthur Schnitzler, sondern auch Thomas Bernhard so geschrieben, der letztere in noch viel drastischeren Worten, aber die gehörten jetzt nicht her. Nichts gehörte her, als Richard und der war auch früher viel zu wenig da gewesen. Wenn es Lore wie ihr ging, war das auch egal. Aber Lore war nicht traurig und gebrochen, das war nur sie. Auch das wußte sie nicht so genau, konnte sie in die Witwe nicht hineinschauen. War keine Psychologin und keine Therapeutin, nur eine Bibliothekarin und studierte Germanistin. Als solche würde sie sich zu den Büchern setzen. Vorher einen Schluck Tee nehmen, der heiß war und nicht schmeckte und den Laptop einschalten. Katalogisieren hatte sie gelernt. Da war sie in ihrem Element und einen Bücherkatalog hatte sie auch schon angelegt. Sie mußte nichts tun, als ihn Stück für Stück durchgehen und eine Liste der ungelesenen Exemplare erstellen. Wenn das nicht einfach war? Dazu brauchte sie sich nicht konzentrieren. Was gut war, denn das brachte sie jetzt nicht zusammen. Nur an Richard konnte sie denken. Richard war die Ausnahme in ihrem Leben und ohnehin in ihrem Kopf. Den brachte sie von dort nicht heraus, wollte es auch nicht. Richard konnte bleiben und ihr zusehen, denn sie sehnte sich nach ihm. Da waren schon wieder die Tränen, die sie am Computer nicht brauchen konnte. Sie ließen sich nicht vertreiben und so viele, daß sie die Maschine außer Betrieb setzen könnten, würden schon nicht fließen. Eigentlich war sie schon ausgeweint. Richards Bild mit seinen gütigen Augen und dem lieben Lächeln ansehen und mit der Arbeit beginnen. Das hatte sie gelernt und die letzten dreißig Jahre so praktiziert. Da war sie auch in ihrer Pension beschäftigt. Das würde Richard freuen, der das die letzten drei Monate nicht mehr gekonnt hatte und mit ihr zufrieden sein. Katharina hatte ihr in einem SMS die Nachricht geschickt, daß sie beim Frühstück einen Architekten namens Harald Schneider kennengelernt hatte und sich Linz ansehen würde. Sie ging stattdessen die Bücher durch und hatte auch schon einige gefunden. Diese Liste würde sie auf ihre Homepage stellen, damit Richard zufrieden war, dachte sie und spürte eine Leere im Kopf, so daß sie sich festhalten mußte und die Augen ein wenig schließen.

Die Liste war bald fertig, genau zweihunderfünfzig befanden sich darauf. Mit den ersten Büchern, den Laptop und einer Kanne Tee konnte sie sich ins Bett begeben und dort bleiben. Richards Bild mitnehmen und es auf den Nachttisch stellen. Er konnte ihr zusehen, dann wußte er, daß sie ihr Versprechen hielt. Nach außen wenigstens, denn im Inneren war sie auf Rebellion. Die Leseliste würde sie auf ihre Homepage stellen und das erste Buch ergreifen. Linda Stifts „Kein einziger Tag”. Keine Ahnung, wie sie dazu gekommen war oder doch. Natürlich wußte sie es. War sie ja eine ausgezeichnete Bibliothekarin und ihr Gedächtnis funktioniere gut. Da war von Alzheimer keine Spur. Sie wußte genau, daß das Buch auf den Neuerscheinungskatalogen stand, die sie in ihren letzten Berufstagen durchgesehen hatte und als sie, um etwas Bewegung zu machen, zu Fuß von Richard nach Hause gegangen war, hatte sie das Buch in einer Buchhandlung gesehen, es am nächsten Tag gekauft und es ihm gezeigt. Sie hatte es ihm vorlesen wollen. Nur leider war er in den nächsten Tagen so schwach gewesen, daß es nicht dazu gekommen war. Dann war es vorbei und sie war in der letzten Woche nicht imstande gewesen, es in die Hand zu nehmen. Jetzt würde sie es lesen und wenn es sein mußte, auch besprechen, damit Katharina und die anderen sahen, daß sie ihr Versprechen hielt und wenn sie mit den Büchern fertig war, würde sie liegen bleiben und abwarten, bis sie von selbst zu Richard kam. So einfach war das. Da brauchte sie keinen Strick, kein Messer und keine Pistole. Sie brauchte nichts als lesen. Dazwischen etwas schlafen und Tee trinken, solange sich ein solcher in der bunten Dose befand, denn einkaufen würde sie nicht. Das würde sie sich selbst versprechen. Dafür, um Richard eine Freude zu machen, der sie, ob dieser aufmüpfigen Gedanken traurig ansah und den Kopf schüttelte, zu Mittag aufstehen und alle Packerlsuppen, die sich im Vorratskasten befand, verzehren und wenn es noch Milch im Kühlschrank gab, würde sie einen Pudding kochen. Nichts zurücklassen, so sollte es ja sein! Ein Testament brauchte sie nicht. Katharina würde ihre Bücher erben und konnte sie auch haben, wenn sie sie wollte. Ihr war das egal und das Buch in ihrer Hand interessierte sie nicht. Aber weil sie es Richard versprochen hatte, würde sie es lesen und weil sie es anschließend besprechen wollte, würde sie sich auf den Inhalt konzentrieren. Danach zu Richard auf die Wolke fliegen oder einfach liegenbleiben, jawohl, das würde sie so tun! Nicht mehr aufstehen und sich um nichts mehr kümmern. Wenn die Vorräte in ihrer Küche nicht für zweihundertfünfzig Bücher reichten, war das auch egal. Denn sie hatte Richard, der schon wieder traurig schaute, nicht versprochen einzukaufen und wollte auch kein Jahr, wie sie wohl für die Bücher brauchen würde, auf ihn warten.

„Ich kann nicht, Lieber, versteh das bitte!”, murmelte sie und schloß, um den strafenden Blick aus ihren Gesichtsfeld zu entfernen, die Augen, denn Richards Stimme war nur Einbildung. Er lag auf dem Zentralfriedhof unter der Erde und konnte sie nicht kontrollieren. Da sie es aber auch Katharina versprochen hatte, würde sie sich daran halten, wenigstens vorläufig. Sie öffnete die Augen und griff nach dem Buch. Ganz egal war es ihr oder auch nicht, denn sie bemühte sich das Gelesene zu verstehen und schickte Katharina eine Nachricht, daß sie schon mit Lydia Mischkulnigs „Schwestern der Angst” begonnen hatte. Katharina berichtete von dem Begräbnis, schrieb von der Katze, die die Nachbarin am Schoß gehalten hatte, daß sie mit ihr Nußtorte gegessen und sich zwei Krimis gekauft hatte, weil sie es der Schwester nachmachen wollte und erkundigte sich, ob Henning Mankell auf ihrer Liste stand? Als ob sie das interessieren würde? Gar nicht tat sie das, trotzdem schaute sie gehorsam nach, fand „Die Rückkehr des Tanzlehrers” auf Platz sechsundfünfzig. Soweit würde sie nicht kommen, konnte aber, um der Schwester, die ihr inzwischen schrieb, daß sie auf der Reise nach Trapani sei und in einem Rasthaus Spätzle aß, was sie nicht interessierte, eine Freude machen und das Buch vorziehen. Mußte es aber nicht, denn sie brauchte niemanden erfreuen. Nicht mehr. Die Frauen waren ohnehin zu gutmütig, versuchten ständig alles recht zu machen und ließen sich viel zu viel gefallen. Vielleicht hätte sie darauf drängen sollen, daß Richard sich von Lore scheiden ließ? Auch das war egal, denn dann wäre sie ebenfalls allein. Alles war egal! Trotzdem stand sie auf und kochte eine Suppe von den letzten Karotten, die sie im Kühlschrank fand. Kartoffeln waren genug im Haus. Da würde sie lange nicht verhungern. Wusch das Geschirr und machte neuen Tee, den sie in das rote Häferl goß, das ihr Richard von einer Bibliothekarstagung aus Berlin mitgebracht hatte. Die Leiter der großen Filialen waren dazu eingeladen. Lisbeth war zu Hause geblieben und war da immer noch, während Richard sie verlassen hatte und da würde sie auch bleiben. Auch die Türe hatte sie nicht geöffnet, als es geläutet hatte. Warum auch? Sie war im Pyjama, erwartete niemanden, wollte mit keinem Zeitungskeiler diskutieren, daß sie auf der Wolke, auf die sie sich demnächst begeben würde, keine Zeitungen brauchte.

„Versteh bitte, daß ich das nicht will! In meiner Wohnung bin ich Königin und muß niemanden hereinlassen!”, entgegnete sie auf Richards vorwurfsvolle Frage trotzig. Er schüttelte den Kopf und sah sie traurig an. So ging sie, als es das nächste Mal klingelte, sie war ohnehin in der Küche und hatte Tee gekocht, ins Vorzimmer, waren die Frauen ja gutmütige Geschöpfe und taten meistens, was sie nicht wollten, öffnete die Tür und schaute fragend auf den etwa gleichaltrigen Mann, der unrasiert war und erschöpft wirkte.

„Wollen Sie etwas von mir?”

„Verzeihung!”, sagte er.

„Ich bin Ihr neuer Nachbar, Dr. Franz Riegler!”

Blickte auf ihren Pyjama und den schwarzen Morgenmantel, den sie darüber geworfen hatte.

„Ich wollte Sie nicht stören, Sie sind schon im Bett gewesen? Es ist ja schon sehr spät. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Ich bin gerade beim Einrichten, möchte ein Regal aufstellen und habe keinen Schraubenzieher. Könnten Sie mir vielleicht aushelfen?”

„Schraubenzieher?”, fragte sie und sah ihn hilflos an.

Ach ja, in ihrem Abstellkammerl befand sich ein Werkzeugkoffer, den sie nur selten öffnete und noch seltener einen Schraubenzieher brauchte. Ließ ihn trotzdem eintreten und suchte nach dem Stück. Er bedankte sich und fügte hinzu, daß er nicht stören wolle und so durcheinander sei, daß er die einfachsten Regeln der Höflichkeit übersehe.

„Meine Frau hat mich nach dreißig Jahren Ehe einfach von einem Tag zum anderen hinausgeschmissen. Ich soll mir eine andere Wohnung suchen. Sie will sich selbst verwirklichen und nicht mehr unterdrücken lassen!”, sagte er und sah sie hilflos an, die das nicht interessierte. Trotzdem ließ sie ihn weitersprechen, hörte, daß er Frauenarzt sei, eine volle Kassenpraxis hatte und durch Vermittlung des Gatten einer Patientin zu dieser Wohnung gekommen war.

„Sie ist auch eingerichtet, so daß ich mich um nichts kümmern muß und nur noch ein Regal für meine Bücher brauche”, erklärte er, bedankte sich und entschuldigte sich noch einmal. Sie schloß die Türe, um sich ins Bett zurückzuziehen und Richard, bevor sie die Augen schloß, um ein bißchen zu schlafen, zu fragen, ob er jetzt zufrieden sei, hörte aber seine Antwort nicht. Alles war ihr egal, der geschiedene Frauenarzt, das Begräbnis ihrer Mutter und die Bücherliste mit der sie inzwischen zum „Handke” und zum „Josef Winkler” gekommen war. Die war es ganz besonders, auch wenn sie alles besprochen hatte. Der Frauenarzt würde den Schraubenzieher hoffentlich vor ihre Türe legen, damit sie nicht mehr öffnen mußte.

Irgendwann wachte sie wieder auf und konnte nicht sagen, wie lange sie geschlafen hatte. Das war nicht wirklich wichtig, weder die Urzeit noch der Wochentag. Auch Katharina hatte sie länger nicht mehr auf ihre SMS geantwortet. Nicht einmal auf die Nachrichten geschaut, trotzdem ging sie ins Bad, putzte die Zähne und stellte sich sogar unter die Dusche, weil sie offenbar so geschwitzt hatte, daß Richards Pyjama an ihr klebte. Also warf sie ihn mit den anderen Sachen, die in ihrer Wäschetruhe lagen in die Waschmaschine, weil sie ihn wieder benützen wollte und ärgerte sich über ihre Wortbrüchigkeit. Denn es war ja lächerlich, daß eine, die nichts mehr von der Welt wissen will, ihre Wäsche schleudert, nur weil sie sich von Richards altem Pyjama nicht trennen kann. Vollkommen lächerlich war das und verrückt. Zog einen Hausanzug an und kämmte sich die Haare. Äußerlich war alles in Ordnung, da konnte ihr niemand den Rückzug anmerken. Da sah sie gepflegter aus, als der geschiedene Frauenarzt. Aber die Männer waren unpraktische Geschöpfe, das wußte sie aus Erfahrung, auch wenn sie von Beruf Bibliotheksleiter und Frauenärzte waren und viel mehr als ihre Kolleginnen verdienten. Bei dem Thema Frauenarzt fiel ihr ein, daß sie doch nach draußen schauen und den Schraubenzieher hereinholen sollte, denn wenn sie den tagelang liegen ließ, kam er vielleicht auf die Idee, die Polizei zu holen und das wollte sie nicht. Nicht auffallen, lautete die Devise, wenn auch das nicht wirklich wichtig war. So ging sie nach draußen, fand den Schraubenzieher nicht, sah aber den Frauenarzt mit einer Bonbonniere die Stiege hinaufkommen. Da hatte sie sich selber in die Nesseln gesetzt. Zum Türe zuschlagen war es schon zu spät. Hatte er sie doch gesehen und ging mit einem verunglückten Lächeln auf sie zu.

„Gut, daß ich Sie treffe!”, sagte er und hielt ihr die Schachtel Katzenzungen entgegen.

„Ich habe schon bei Ihnen geläutet, um Ihnen den Schraubenzieher zurückzubringen. Sie waren aber nicht zu Hause oder haben schon geschlafen. Ich werde ihn gleich holen. Darf ich mir inzwischen erlauben mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit mit einer Kleinigkeit revanchieren. Ich hoffe, Sie mögen Katzenzungen?”

Tat sie natürlich nicht, war sie ja kein Kind und eine Katze hätte sie nur als kleines Mädchen gern einmal gehabt. Damals war das nicht gegangen, inzwischen hatte eine Katze die Mutter beerbt und sie war keine Süße und hatte keinen Appetit. Trotzdem „Vielen Dank!”, gesagt. Die Frauen sind alle verlogene Geschöpfe, und sie blieb stehen, bis er das Werkzeug aus seiner Wohnung geholt hatte.

„Ich hätte Sie gern auf eine Tasse Kaffee eingeladen, aber den habe ich nicht zu Haus. Ich fürchte, es ist kein Klischee, daß die Männer unpraktisch sind!”, sagte er, was sie gerade gedacht hatte.

„Ich bin es wirklich oder sagen wir, ich bin mit meiner Praxis so überlastet, daß ich mir bisher gern von Frauen helfen ließ. In der Ordination habe ich meine Assistentinnen. Zu Hause hat bisher Gerlinde alles gemacht. Jetzt hat sie mich hinausgeworfen und ich muß für mich selber sorgen, was nicht so schlimm ist. Gibt es ja Lokale, wo ich essen kann und den Kaffee bereiten mir meine Assistentinnen zu, so habe ich, muß ich befürchten, einen leeren Kühlschrank, werde aber einkaufen gehen!”, versprach er ihr, der das egal war und die das nicht tun würde, aber antwortete, daß sie ebenfalls keinen Kaffee zu Hause habe.

„Nur Tee, wenn Sie damit zufrieden sind, kann ich Ihnen eine Tasse anbieten!”, hörte sie sich zu ihrem Erstaunen sagen. Ärgerte sich darüber und noch mehr, daß er ein paar Minuten später in ihrer Küche stand. Die Rückzugstendenz war ihr nicht anzumerken, hatte sie, wenn sie gekocht hatte, das Geschirr immer abgespült. Die Frauen waren eben Gewohnheitstiere, die funktionierten, auch wenn es ihnen beschissen ging. Die Kanne stand sogar auf den Tisch. So brauchte sie nur frisches Wasser aufgießen und zwei Schalen ins Wohnzimmer tragen. Auch dort war alles in Ordnung, die Blumen nicht vertrocknet und die Bücherwände beeindruckten ihn sehr.

„Sie haben aber viele Bücher!”, sagte er einfallslos, wie alle Männer waren und sie erklärte, daß sie Bibliothekarin gewesen war und vor drei Monaten in Pension gegangen. Er nickte und erzählte, daß er darauf etwas warten müsse, da seine Tochter noch studiere und Gerlinde sicher Unterhalt von ihm verlange. Er dann aber um die Welt reisen würde. Das habe er sich schon lange vorgenommen und träume immer, wenn es ihm, wie beispielsweise jetzt, schlecht ging, davon. Lisbeth dachte wieder, daß alle Männer das Gleiche wollten und erzählte, daß das ihre Schwester ebenso mache.

„Ich habe mir vorgenommen meine Bücher zu lesen!”, fügte sie hinzu und öffnete die Katzenzungenpackung.

„Meine Mutter und ein guter Freund sind gerade gestorben, da bin ich ein bißchen durcheinander!”, sagte sie zur Erklärung und schaute auf den Ring an ihrem Finger. Er antwortete verständnisvoll, daß er nicht stören wolle und sich für den Tee bedanke.

„Morgen habe ich eingekauft. Wenn ich mich revanchieren kann, werde ich das gerne tun!”, versprach er und sie schüttelte den Kopf, um zu betonen, daß das nicht nötig sei, legte den Schraubenzieher in den Werkzeugkasten und hing die Wäsche im Badezimmer auf die Leine. Da würde sie Richards Pyjama bald wieder anziehen können. Wenn der Frauenarzt eine große Praxis hatte, war er beschäftigt und würde bei ihr nicht läuten. Sie würde jedenfalls nicht mehr öffnen, sondern weiterlesen, wie sie es Richard versprochen hatte. Die Katzenzungen konnte sie ins Schlafzimmer mitnehmen, dann ersparte sie sich das Kochen einer Suppe und würde schneller fertig werden, dachte sie, trug die Bücher von Peter Handke und Josef Winkler ins Wohnzimmer zurück und schaute auf der Liste nach den nächsten. Jetzt kamen „Jurij Brezan” und „Karl Olsberg” an die Reihe. Was sich alles in den Regalen einer Bibliothekarin angesammelt hatte und was sie überhaupt nicht interessierte, dachte sie erstaunt und zog sich mit dem Vorsatz, dem Frauenarzt das nächste Mal nicht mehr zu öffnen, ins Bett zurück. Tat es dann zwei Tage später doch. Fast automatisch war sie zur Tür gegangen, als sie Jurij Brezans „Grüne Eidechse” ins Regal zurückstellte, um die nächsten Bücher zu holen. Jetzt hatte sie zwar einige Zeit gelesen, aber schon lange nichts mehr besprochen und mußte das wieder tun oder eigentlich auch nicht. War sie ja eine freie Frau, die gar nichts mußte. Sie trug wieder Richards Pyjama, was sie vielleicht veranlaßte, sich ein bißchen wohler zu fühlen. Ein Gefühl der Sicherheit gab es ihr auf jeden Fall, während der Frauenarzt zusammenzuckte.

„Verzeihung, wenn ich wieder störe!”, sagte und sich erkundigte, ob sie sich nicht wohlfühle und er helfen könne? Da hatte sie es, wenn man einen Frauenarzt zum Nachbar hat, soll man nicht am Sonntagnachmittag im Pyjama herumlaufen, auch wenn man sich versprochen hat, diesen nie mehr abzulegen und Richard hatte sie versprochen, ihre Bücher auszulesen. Die Frauen waren eben unselbständige Geschöpfe, die sich durch ihre Versprechen selbst behindern.

„Aber Sie sind in Pension und können sich das leisten!”, scherzte er. Sie schüttelte den Kopf und begann zu erzählen, daß das Richards Pyjama sei, der vor zwei Wochen seinem Krebs erlegen sei. Deshalb sei sie in den letzten drei Monaten nicht viel zum Bücherlesen gekommen, weil sie das jetzt nicht interessiere. Er nickte.

„Das verstehe ich sehr gut. Dann sollte ich mich verabschieden. Ich wollte Sie in meine Wohnung bitten und zu einer Jause einladen. Habe ich doch den Tisch sehr schön gedeckt, Kaffee gekocht und Kuchen aus der Konditorei geholt. Dann passt das vielleicht nicht!”, sagte er enttäuscht.

„Doch!”, antwortete sie wieder fast gegen ihren Willen.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, daß ich Ihnen im Pyjama Gesellschaft leiste. Ich ziehe den Morgenmantel darüber, dann ist es wie im Krankenhaus und das sind Sie gewohnt!”

„Selbstverständlich!”,antwortete er und fügte hinzu, daß er auch gerne im Pyjama herumlaufe.

„Wenn ich ehrlich bin, könnte ich Ihnen erzählen, daß ich mich gerade erst angezogen habe, als ich zum Essen hinuntergegangen bin und den Kuchen in der Hoffnung kaufte, daß ich Sie zur Jause einladen kann. Ich habe sehr viel besorgt, so daß es schade wäre, wenn es überbliebe, denn ich stehe eigentlich nicht sehr auf Süßes!”

„Natürlich!”, dachte Lisbeth „das machen nur die Frauen, die sich aus Frust ihr Übergewicht anfressen!” und an die Schachtel Katzenzungen, die sie inzwischen gegessen hatte. Er führte sie in ein geräumiges Wohnzimmer.

„Sehen Sie, der Tisch ist gedeckt und Kaffee gekocht!”, sagte er und fügte scherzend hinzu, daß er als Hausmann offenbar Qualitäten habe.

„Wie geht es Ihnen?”, erkundigte sich Lisbeth, nachdem sie Platz genommen hatte und sich von ihm ein Stück Apfelstrudel auf den Teller legen und Kaffee einschenken ließ, wobei sie mit Verwunderung bemerkte, daß sie sich auf den appetitlichen Strudel freute. War ihre Krise schon vorbei und sie am Ende doch nicht so depressiv, wie gedacht oder hatte sie nur einfach Hunger? Das Letztere schien zuzutreffen. Schien ihre Rückzugstendenz schon eine Woche zu dauern und so waren alle Suppen und Puddingpackerln weggekocht. Vielleicht sollte sie doch einkaufen? Sie mußte es aber nicht übertreiben. Es reichte sich von dem Frauenarzt zur Jause einladen zu lassen. Er hatte wirklich gründlich eingekauft und so stand in der Tischmitte eine große Platte auf der mindestens zehn Kuchenstücke lagen. Genug für eine Jause und sie brauchte sich nicht bescheiden. Richard hatte sicher nichts dagegen, wenn sie sich satt aß, hatte er in den letzten Tagen ohnehin sehr besorgt geschaut und ihr zugeredet, sich nicht so gehen zu lassen.

„Du mußt auf dich achten, Lisel, versprich mir das!”, hatte er gepredigt und wenn sie sich auch vorgenommen hatte, nicht auf ihn zu hören, irgendwann muß Frau sich emanzipieren, wenn sie über sechzig ist, war die Kuchentafel des Gynäkologen eine gute Gelegenheit sich anzuessen, dann brauchte sie nicht gleich morgen einkaufen gehen.

„Nicht sehr gut!”, hörte sie ihn antworten.

„Obwohl meine Ehe, wie ich fürchte, doch nicht so perfekt war, wie ich immer dachte. Gerlinde geht mir nicht ab. Es ist nicht so, daß ich mich in die Donau stürzen möchte, weil sie mich hinausgeworfen hat!”, sagte er mit einem nachdenklichen Blick auf sie, als würde er ihr das zutrauen.

„Da trauern Sie wahrscheinlich mehr um ihren Mann!”, vermutete er und blickte auf den Ring an Ihrer Hand und auf den karierten Herrenpyjama, der unter ihren Morgenmantel herauslukte.

„Richard war nicht mein Mann. Ich bin nicht verheiratet, sondern die heimliche Geliebte, die man vor der Welt verstecken muß, obwohl meine Beziehung zu ihm sehr gut war!”, sagte sie und biß in den Apfelstrudel, der tatsächlich so schmeckte, wie er aussah.

„Aber das schon dreißig Jahre und so bin ich in Verbindung mit meinen Pensionsschock tatsächlich etwas durcheinander. Noch dazu ist auch meine Mutter gestorben. Das traf zwar nicht so sehr, weil ich sie schon Jahre nicht gesehen habe. Meine Schwester ist zu ihrem Begräbnis gefahren. Ich habe mich zu meinen Büchern zurückgezogen und eigentlich nicht mehr aufstehen wollen. Jetzt sitze ich in Ihrem Zimmer, esse Ihren Kuchen und stelle fest, er schmeckt!”, sagte sie und sah ihn erstaunt an. Er beeilte sich ein zweites Stück Apfelstrudel auf ihren Teller zu legen.

„Es ist auch von der Konditorei Aida und, daß die ausgezeichnet ist, höre ich immer von meinen Patientinnen und meinen Vorzimmerdamen. Nehmen Sie, Ihren Freund wird es freuen, wenn es Ihnen schmeckt und er wird nichts dagegen haben, daß Sie in meinem Wohnzimmer sitzen, Sie haben ja seinen Pyjama an!”, behauptete er. Sie nickte.

„Verrückt nicht wahr, aber Sie sind kein Psychiater, sondern Gynäkologe!”

„Daß man nach so einem Verlust traurig sein darf, weiß auch der, selbst, wenn ich das nach meiner Trennung von Gerlinde nicht sehr bin, sondern nur lernen muß, Kaffee zu kochen und für mich selbst zu sorgen, was vergleichsweise nicht sehr schwierig ist!”, scherzte er.

„Dann können Sie mit sich zufrieden sein!”, antwortete sie und merkte, daß ihr auch der Kaffee schmeckte. Er schüttelte zögernd den Kopf.

„Eigentlich nicht!”, sagte er und fügte hinzu ”Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das erzählen soll? Sie werden den Kopf voll mit ihren Angelegenheiten haben. Da will ich Sie mit meinen Problemen nicht belasten!”, um ihr von seiner Schwester zu erzählen, zu der es auch keinen Kontakt gebe.

„Ich habe in den letzten Tagen sehr viel nachgedacht und glaube, daß ich da eine Leiche im Keller habe, die ich schleunigst holen und begraben sollte. Obwohl eine Leiche ist es nicht, denn meiner Schwester geht es sehr gut. Lenka Riegler ist ihr Name. Sie ist Krimiautorin, das sagt Ihnen als Bibliothekarin sicher etwas?”, vermutete er und sie erinnerte sich, die Sizilianisch-Wiener Regionalkrimis in der Stumpergasse stehen gehabt zu haben, die oft gelesen wurden.

„Sie haben sich mit Ihrer Schwester zerstritten und können sich nicht mit ihr versöhnen?”, vermutete sie.

„Vielleicht sollte ich das. Versöhnen kann man sich ja immer und meine Schwester hat, glaube ich, gar nichts dagegen, sondern sogar einige diesbezügliche Versuche unternommen und hält mich wahrscheinlich für einen sturen Hund, weil ich das bisher verweigerte!”, sagte er und Lisbeth meinte, daß er das tun könne, wenn sich seine Einstellung geändert hatte.

„Das sollte ich wohl, da ich merke, daß ich mich davor drückte. Vielleicht war es auch Gerlinde, die mich bisher gehindert hat. Ich weiß, man soll den Frauen nicht die Schuld an den eigenen Unzulänglichkeiten geben. Es ist schon meine Angelegenheit und ich trage meinen Teil daran. Aber als Lenka noch am Wochenende bei uns gewesen ist, habe ich gemerkt, daß ihr das gar nicht passte und als es zum Bruch gekommen ist, hat sie nie etwas dagegen getan, so daß ich dachte, daß es ihr recht war, daß es so gekommen ist. Aber jetzt hat Gerlinde mein Leben sehr verändert, daß ich, wenn ich schon neu anfange, vielleicht eine Inventur durchführen und mich bei meiner Schwester entschuldigen soll? Was meinen Sie dazu?”, erkundigte er sich und schaute Lisbeth fragend an, die „Das könnten Sie bestimmt!”, antwortete, obwohl sie das Problem nicht ganz verstand. Er schien es ihr nicht so genau erzählen zu wollen, sondern schon genug gesagt zu haben, denn er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die naß vor Schweiß geworden war, schenkte Kaffee nach und erkundigte sich, ob er ihr ein Stück Malakoff- oder eine Obsttore auf den Teller legen sollte?

„Ich fürchte, ich habe schon genug und in den letzten Tagen so unregelmäßig gegessen, daß ich meinen Magen nicht überlasten sollte!”, sagte sie und er nickte.

„Dann packe ich Ihnen die anderen Stücke ein, Sie nehmen sie hinüber und ersparen sich noch einen Tag das Einkaufen. Wenn Sie wollen, können wir das am Mittwoch gemeinsam erledigen. Das ist mein praxisfreier Tag und ich muß auch einiges besorgen. Wenn wir gemeinsam in ein Einkaufszentrum fahren, haben Sie es leichter und brauchen nicht soviel tragen, falls Sie kein Auto haben sollten!”

„Habe ich nicht, richtig, Sie haben mich durchschaut!”, antwortete Lisbeth und dachte, daß er ein guter Arzt zu sein schien.

„Dann will ich nicht mehr länger stören und auch in der Aufnahme meiner Sozialkontakte vorsichtig sein!”, sagte sie und er stand auf, um das Kuchenpapier zu holen und die Tortenstücke einzupacken.

„Nehmen Sie alle!”, insistierte er.

„Da ich sie wahrscheinlich nicht essen würde und es schade wäre, wenn sie verderben. Ihnen tun sie vielleicht sehr gut!” und bot ihr an, ihr beim Tragen zu helfen. Lisbeth hatte keinen Einwand und bemerkte, als sie auf den Gang traten, daß vor ihrer Türe ein junger Mann stand, der geläutet zu haben schien und jetzt einen Zettel schrieb.

„Wollen Sie zu mir?”, erkundigte sie sich erstaunt.

„Wenn Sie Frau Dr. Hahnenpichler sind!”, antwortete er erleichtert und stellte sich als Laurenz Schwarz vor.

„Meine Mutter hat mich geschickt, um nachzufragen, ob alles in Ordnung ist, da sich Ihre Schwester Sorgen, um Sie macht, weil Sie sie nicht erreichen konnte. Sie hat gedacht, Sie wären vielleicht krank und ich solle nachsehen, da ich Medizin studiere!”, scherzte er. „Sie scheinen mein Fachwissen aber nicht zu brauchen oder sind Sie doch erkrankt?”, fragte er mit einem Blick auf Ihren Pyjama.

„Nur nicht richtig angezogen!”, antwortete Lisbeth und dachte, daß er bestimmt etwas Falsches von ihr dachte, was sie aber gar nicht störte und stellte ihren Nachbarn vor.

„Dr. Riegler, ein Gynäkologe, der sich um mich gekümmert hat!”, erklärte sie und merkte mit Erstaunen, daß er zusammenzuckte.

„Onkel Franz?”, fragte er verblüfft und sie blickte neugierig auf ihren Nachbarn, der ebenfalls zusammenzuckte und „So ein Zufall, da scheinen Sie Besuch von meinem Neffen bekommen zu haben, während ich mich noch darum drückte, meine Schwester zu kontaktieren. Sie scheinen mir wirklich Glück zu bringen!”, sagte er und verabschiedete sich, um den jungen Mann in seine Wohnung zu führen. Sie blieb noch ein wenig stehen und blickte ihnen verwundert nach. Dann deponierte sie das Kuchenpaket in die Küche, schaute auf die Uhr und begann sich anzuziehen. Ein Pyjama war vielleicht doch nicht so passend, wenn man soviel Besuch bekam, auch wenn es schon Abend war. Da war der Hausanzug unverfänglicher.

„Ich hoffe, das macht dir nichts, Richard?”, fragte sie mit einem Blick auf das Bild, daß sie, nachdem sie das Bett gemacht hatte, wieder ins Regal stellte. Das gehörte auch einmal getan und das Zimmer gelüftet. Also trug sie den Laptop in das Zimmer und suchte nach dem Handy, in das sie schon lange nicht benützt hatte. Wenn Katharina den Neffen ihres Nachbarn zu ihr schickte, war es Zeit hineinzusehen und da waren tatsächlich einige Mitteilungen zu finden. Nicht nur von Katharina, die ihr von ihrer Reise zu ihrer Freundin, der Krimiautorin Lenka Riegler, wie hatte sie auf diesen Namen nur vergessen können?, erzählte. Sie nach ihren Büchern fragte und besorgt war, daß sie schon länger keine mehr besprochen hatte.

„Es ist alles in Ordnung, liebe Schwester, ich war nur etwas indisponiert und melde mich wieder!”, tippte sie in das Handy und registrierte, daß sie noch eine Nachricht von einer Philomena Richter bekommen hatte. Philomena Richter, wer war das bloß?”, dachte sie ein wenig hilflos, bis ihr einfiel, daß das die Nachbarin ihrer Mutter war und die stellte sich auch gleich als solche vor und teilte ihr mit, daß sie ein Tagebuch der Mutter gefunden hatte und wollte wissen, ob sie sich es holen oder sie es ihr schicken sollte?


Alfred Nagl