Die unsichtbare Frau

Wien im Herbst 2017 kurz vor der Wahl, bei der sich wieder eine blauschwarze Regierung bilden soll.

Lilly Schmidt, die in New York Kuratorin am österreichischen Kulturinstitut ist, schreibt einen Blogroman, in dem sie eine „Unsichtbare Frau”, die prekär beschäftigte Deutschlehrerin, Amanda Siebenstern des Nächtens zu Donald Trump, Recep Erdogan, Wladimir Putin oder auch Minister Basti schickt, um ihnen die Leviten zu lesen, beziehungsweise sich in das Politgeschehen einzumischen.

Während das passiert wird sie sowohl von ihren Eltern, die wir aus „Besser spät als nie” kennen, als auch von der vierundzwanzigjährigen Germanistikstudentin Slavenka Jagoda aus Bratislava oder Kosice besucht, die ihre Dissertation über die „Unsichtbare Frau” und den Einfluß von Blogromanen schreiben will.

Außerdem gibt es den mit der gegenwärtigen Politik unzufriedenen Alfons Tratschke, dem alles zu „linksverseucht” erscheint, einen Techniker und Hobbyschriftsteller, der die Frankfurter Messe besucht und der Nobelpreis für Literatur wird in diesem Jahr natürlich auch vergeben.

20.

Am nächsten Tag, Jonathan Larsen wunderte sich über sich selber und konnte es kaum glauben, war er wirklich aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen und war mit der Liste in der Hand in die Akademie gefahren. Das heißt, so ganz freiwillig war das nicht geschehen. Das war schon Brittas strengem Blick und ihrem Gesäusel zu verdanken, daß sie so stolz auf ihn wäre, weil er sich zusammenreißen würde. Sie das auch von ihm erwartete und es im Himmelscafe Stefan Zweig, Heimito von Doderer, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und wem sonst auch immer, mitteilen würde, daß ihr Jon zur Jurysitzung ging.

„Denn wißt ihr, er ist ein starker Charakter, mein guter Jonathan! Wenn er auch sehr traurig ist, daß wir nicht mehr zusammen sein können, weiß er doch, daß das Leben weitergeht!”, hörte er sie säuseln, während er grimmig dreinschauend, die Mappe in der Hand, das Sitzungszimmer betrat, in dem schon Engdahl auf ihn zukam und ihn scheinbar freudig begrüßte. Auch der säuselte etwas, das danach klang, daß er stolz auf ihn wäre, weil er gekommen war und sie nicht in Stich gelassen hatte.

„Es wird schon, altes Haus!”, setzte er gewollt euphorisch hinzu, um ihm dann noch einmal mit traurigen Augen zu dem sicherlich sehr schlimmen Verlust zu kondolieren.

„Aber das Leben geht weiter, Jon, da kann man nichts machen! Da können wir nicht aus und deshalb freue ich mich sehr, dich zu sehen!”, schleimhaft verlogen zu ihm sagte.

„Unser Jonathan wird es schon schaffen!”, behauptete auch Carola, die unentwegte und er nickte wieder grimmig vor sich hin und murmelte etwas, das nicht sehr freundlich war, wenn man es verstanden hätte. Setzte sich auf seinen Platz und schlug die Mappe auf.

„Dann gehen wir es an!”, schlug Engdahl vor, nachdem die Sekretärin den Kaffee serviert und das Sitzungszimmer verlassen hatte.

„Gehen wir es an! Die Liste ist ja klar! Ich hoffe, ihr habt sie alle durchstudiert und ich hätte jetzt gerne eure Vorschläge!”, sagte er und schaute ihn, wie ihm vorkam, mitleidig an oder bildete er sich das nur ein? So war es höchstwahrscheinlich und er hatte sich, auch wenn Britta jetzt enttäuscht von ihm war und den Kopf schütteln würde, vorgestern Abend, nach der Geisterstunde nicht sehr bemüht, die Liste durchzugehen. Das hatte er ganz ehrlich überhaupt nicht getan. Hatte in diesem Sinne seine Hausaufgaben nicht erledigt und nicht wirklich eine Ahnung, wen er vorschlagen sollte? Denn er hatte sich, nachdem Britta verschwunden war, um ihren Freundinnen Inge, Virginia und Ilse mitzuteilen, daß es der gute Jon schon schaffen würde, auf der Seite dieser „Unsichtbaren Frau” herumgetrieben. Die Geschichten von der Deutschlehrerin gelesen, die am Abend mit einer Tarnkappe auf dem Kopf bei den Mächtigen dieser Welt auftauchte, um ihnen ihre Meinung zu sagen und das hatte ihn, wie er zugeben mußte, amüsiert und ihn von seinem Leid und auch von der Frage, wen er demnächst vorschlagen sollte, abgelenkt. Denn die Geschichte von der Halloween Party, die die muslimischen Frauen, um dem Verschleierungsverbot der österreichischen Regierung zu trotzen, auf dem Kahlenberg abhielten, während die Patrioten, also die jungen Rechten, auf der anderen Seite des Berges, Prinz Eugen, der die Türken aus Österreich vertrieben hatte, zujubelten und begeistert „Immer wieder, immer wieder Österreich!”, gröhlten, hatte ihm sehr gefallen. Er hatte auch nachgegooglet, wen er sich unter Lilly Schmidt vorstellen konnte. Lilly Schmidt war eine Literaturwissenschaftlerin, die seit einigen Jahren Kuratorin am österreichischen Kulturinstitut von New York war und seit einem halben den Blog der „Unsichtbaren Frau” betrieb und schon einige sehr schöne Geschichten in ihn hineingestellt hatte. „Also lieber Jon, wir hören deine Vorschläge und sind gespannt!”, hörte er jetzt Engdahls Stimme, die ihn in das Sitzungszimmer zurückrief und er zuckte zusammen. Denn da hatte er nicht aufgepasst und daher keine Ahnung, wen die anderen vorgeschlagen hatten. Carola traute er zu, daß sie wieder „Margaret Atwood” gesagt hatte, denn sie war eine Feministin und Frauenrechtlerin. Zumindestens hielt sie sich dafür oder betonte das, obwohl es ihm eigentlich nicht sehr glaubhaft schien, immer wieder und Engdahl hatte wohl „Amos Oz” gesagt, da Tomas Tranströmer, den er früher vorgeschlagen hatte, den Preis vor einigen Jahren bekommen hatte und außerdem schon verstorben war. „Nun lieber Jonathan, wir hören!”, hörte er Engdahls mahnende Stimme und hatte wirklich keine Ahnung, was er antworten sollte. Mit Haruki Murakami oder Philip Roth, die Namen, die sich wohl, die meisten lesenden Mittelschichtfrauen wünschten, wäre er nicht einverstanden, aber ob Margaret Adwood, die richtige Alternative war? Tomas Tranströmer war schon verstorben, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, ebenso.

„Also lieber Jonathan, wir hören!”, hörte er Engdahl jetzt schon ungeduldig geworden, zum dritten Mal mahnen und spürte die Blicke aller auf sich ruhen. In welche Schwierigkeiten hatte Britta ihn da gebracht, als sie ihn in der Geisterstunde veranlaßt hatte, herzukommen? Denn er hatte keine Ahnung, wen er vorschlagen sollte? Konnte sich aber erinnern, daß Britta von Lilly Schmidts Blog begeistert gewesen war und „Trau dich nur, ihn vorzuschlagen! Das ist eine gute idee, auch wenn du deine konservativen Kollegen damit nicht begeistern wirst!”, geraten hatte. Also gut.

„Dann schlage ich Lilly Schmidt mit ihrem Blog „Die unsichtbare Frau” vor, weil man unausgetretene Wege betreten und etwas Neues wagen soll! Blogs sind die Zukunft der Literatur und sich politisch mit der Lage der Nation auseinanderzusetzen, kann nicht schaden!”, hörte er sich zitieren und bemerkte die entsetzten oder auch verständnislosen Gesichter in der Runde. Hörte Carola und auch Karlsson ”Lilly, wer?”, fragen. Engdahl starrte ihn entgeistert an und dachte höchs\-wahr\-schein\-lich „Der hat nicht mehr alle! Der Tod seiner lieben Frau hat ihn gänzlich verrückt gemacht!”

„Eine Lilly Schmidt steht, glaube ich, nicht auf unserer Liste, lieber Jonathan!”, hörte er ihn mit betont korrekter Miene korrigieren.

„Dann hätten wir also fünf Stimmen für Kazuo Ishiguro, die der lieben Carola, für Margaret Atwood, weil sie eine Frauenrechtlerin ist. Sicherlich eine gute Wahl, aber die Atwood wird, wie ich hörte, in Frankfurt, den „Friedenspreis des Buchhandels” bekommen und daher wahrscheinlich nicht so traurig sein, wenn sie bei uns nur eine Stimme hat, was auch zu meinem großen Bedauern für Amos Oz gilt, den ich für einen der bedeutendsten Dichter halte! Also fünf gegen eins und eins und wenn unser lieber Jon uns nicht doch noch einen Namen von der Liste verraten sollte, wird das Ranking für Kazuo Ishiguro sprechen, den ich auch für einen geeigneten Kandidaten halte!”, sagte er mit säuerlicher Stimme, die Jonathan Larsen verriet, daß der Gute doch nicht so damit einverstanden war, das als Juryvorsitzender aber nicht zugeben konnte.