Die Journalistin Dorothea Apfelsan ist nach einer gescheiterten Beziehung nach Wien zurückgekommen und beginnt als freiberufliche Journalistin im „Kleinen Blatt” zu arbeiten, wo sie den Fotografen Eberhard und die Kolumnistin der Tierecke Agnes Mayerling kennenlernt, die ihr von ihrer Recherche am Todesfall der achtundsechzigjährigen Tierfreundin und Taubenfütterin Valerie Nowotny berichtet, aus deren plötzlichen Tod sie einen Politfall machen und die Leserschaft gegen das Taubenfütterungsverbot im Sinn von Sauberkeit und Hygiene der Stadt Wien aufhetzen will. Dorotheas Nachbar, der an Alzheimer erkrankte, ehemals berühmte Dichter Johannes Schwarzinger, der von der Caritasschwester Rosalia betreut wird und seine Tage Straßenbahn fahrend in Wien verbringt, gerät in Mordverdacht und facht eine vom Seniorchef des „Kleinen Blattes” initiierte Debatte zum „Recht auf Sterbehilfe” an, die Dorothea Apfelsan nur durch eigene Recherchen einbremsen kann, in deren Folge sie in allerhand Turbulenzen und Schwierigkeiten gerät.

2.

Johannes Schwarzinger war es gerade noch gelungen auf die Straßenbahn zu springen. In der letzten Sekunde vor der Abfahrt war es gewesen. Gerade noch erreicht, dachte der alte Mann und keuchte ein wenig, während er mit der Hand den Haltegriff umfaßte. Gerade noch geschafft und sich mit der Hand eine der graugewordenen Haarsträhnen aus der Stirn hinausgestrichen. Nach hinten wanken, hatte er dort doch einen freien Platz entdeckt. Das heißt eigentlich war ein junges Mädchen aufgesprungen, um dem älteren Platz zu machen. Johannes Schwarzingers Blick fuhr gefällig über ihren schlanken Körper, ist er doch ein Frauenkenner oder besser war er es, dachte er selbstkritisch und strich sich nochmals über die grauen Strähnen, war er doch ein alter Mann. Das hatte er nicht vergessen, obwohl andere das von ihm behaupteten. Nein, er war noch ganz bei Sinnen, obwohl es vorkam, daß er in letzter Zeit vergeßlich war. So hatte er das hübsche junge Mädchen von vorhin bereits aus den Augen verloren und wenn er ehrlich war, mußte er auch zugeben, daß ihm entfallen war, wohin er fahren wollte, als er auf die Straßenbahn gesprungen war. Der jähe Aufsprung hatte die Erinnerungsspur aus seinem Gedächtnis gerissen. Es war aber auch egal, verfügte er doch über jede Menge freie Zeit, seit er das Schreiben aufgegeben hatte. Denn früher, das wußte er noch genau, war er ein berühmter Dichter, ein Dramatiker und Romancier. Das sind die Endlosschleifen einer Warteschlage. Wer hat das nur gesagt?, fragte sich der alte Mann nun etwas hilflos. Wer prägte diese Worte, die ihm in letzter Zeit in fast nicht enden wollender Abfolge durch den Kopf gingen? Sollten es Phrasen aus einem seiner Werke sein? Er vermochte es nicht zu sagen und schaute deshalb durch die Fensterscheibe. Wo fuhr er überhaupt hin und wozu war er in den Straßenbahnwaggon gestiegen? Viele Fragen und keine Antwort wissen, dabei konnte er sich ganz genau an seine Romane erinnern. Jeder einzelne war ihm bekannt, unterhielt er sich doch darüber mit seinen Schülern und mit der jungen Frau in dem schwarzen Kleid, die ihn so oft besuchen kam. Wie hieß sie gleich? Auch dieser Name war ihm entfallen, daß er aber etwas mit Rosen zu tun hatte, da war er sich ganz sicher. Nun gut, er gab zu, daß er in letzter Zeit viel vergisst, so wie er auch vergessen hat, warum er in die Straßenbahn gestiegen war. Jetzt war sein Blick auf seine Schuhe gefallen. Auf seine braunen Weichlederschuhe, die so seltsam erdig waren und wieder keine Ahnung, wie die Erdkrusten auf die Schuhsohlen kamen. In der Straßenbahn befand sich doch keine Erde, natürlich wurde dort keine solche hingeschaufelt, das wußte er, es war nur dumm, daß er sich nicht erinnern konnte, wo er seine Schuhe beschmutzt hatte. Wahrscheinlich war er spazierengegangen. Natürlich, das war des Rätsels Lösung, hatte er ja nicht nur viel Zeit, sondern war auch ein tüchtiger Flaneur, der lange Promenaden liebte, auch wenn er augenblicklich nicht sagen konnte, wo er gewesen war. Saublöd diese Vergeßlichkeit. Johannes Schwarzinger seufzte ein wenig und strich nochmals über sein Haar, dabei war seine Haarfülle beachtlich. Keine Spur von einer Glatze, er konnte über eine stattliche Menge aufweisen und es war auch noch ein zartes Grau, das seinen Kopf bedeckte, keine Spur von der weißen Mähne des Greises, davon war er Jahre entfernt. So gesehen war er noch sehr rüstig, zwar kein Jüngling mehr. Da war er selbstkritisch, wenn er sich auch an das junge Mädchen von vorhin inzwischen genau erinnern konnte. Vor allem ihr Lächeln war ihm im Gedächtnis geblieben, es war ein liebes Lächeln gewesen. Dabei war er kein Weiberheld, das nicht, auch früher war er sehr zurückhaltend, als er jünger und berühmt gewesen war. Berühmt? War er das nicht mehr? Wieder schwieg sein Gedächtnis und wieder fühlte er die Endloswarteschleife in seinem Hirn und sich sehr hilflos und weil er sich außer an ein paar Namen, an seine früheren Werke nicht mehr gut erinnern konnte, schaute er wieder aus dem Fenster. Wohin war die Straßenbahn nur unterwegs? Er schien in die Stadt zu fahren, obwohl Erdkrusten an den Füßen klebten. Das hatte er nicht vergessen und er wußte nun auch ganz genau, daß er am Donaukanal spazierengegangen war, vorhin oder war es gestern gewesen? Egal, er liebte jedenfalls den Donaukanal und eines seiner Werke handelte auch dort. Das hat er nicht vergessen, wie er sich, wenn er sich nur Zeit ließ sich zu konzentrieren, überhaupt an viel erinnerte. Es war doch seine Schwester, der er das beweisen wollte, oder war es die Mutter? Aber nein, die war lange tot, mußte das doch sein, wenn aus ihm ein alter Mann mit grauen Haaren und erdbeschmutzen Füßen geworden war. „Aber die Zeit trägt in sich die Macht zur Veränderung.” Das war ein Satz aus seinen Romanen, auch daran konnte er sich erinnern, aber ob es der war, der am Donaukanal spielte? Donaukanal. Wer hat vom Donaukanal gesprochen? Wer hat ihn, den berühmten Romancier und Dramatiker, der 1955 mit erst zweiundzwanzig Jahren schon den Wildganspreis bekommen hat, danach gefragt? Auch das brachte er durcheinander und verwechselte es, wie er in der letzten Zeit überhaupt sehr viel verwechselte. Denn die beiden viel jüngeren Männer, die sich vor ihm aufgestellt und ihn angesprochen haben, hatten nicht danach gefragt. Ob sie ein Autogramm wünschten? Bei seinen Lesungen hatte er oft ganze Stunden seine Werke signieren müssen. Vor allem die Frauen waren wild darauf und die jungen Hübschen haben ihm auch sehr gefallen, wie vorhin das liebe kleine Mädel. Was wollten aber die beiden von ihm?

Mit „Fahrscheinkontrolle!” hat der eine ihn jetzt angesprochen. Er hörte, daß seine Stimme ungeduldig klang, wahrscheinlich hat er mehrmals fragen müssen, weil der graugewordene Dichter an ein liebes kleines Mädel dachte. Johannes Schwarzinger mußte fast ein wenig kichern, wurde dann aber ratlos, dämmerte ihm doch, daß er zwei der städtischen Fahrscheinkontrollore vor sich hatte. Wo war nur sein Fahrschein? Wieder spielte ihm das Gedächtnis einen Streich. An das liebe kleine Mädel konnte er sich erinnern und auch daran, daß er seine Schuhe an der Donaukanalpromenade schmutzig gemacht hat, bevor er auf die Straßenbahn gesprungen war. Ob er aber einen Fahrschein gelöst hat, wußte er nicht mehr. Kann er doch nicht an alles denken.

„Du fragst was dreizehn Weise nicht wissen!”, hat der alt gewordene Eduard in seinem Stück „Hochland” seiner Tochter Irmgard geantwortet, wenn sie von ihm wissen wollte, ob er seine Beruhigungspillen schon eingenommen hat. Das wußte er genau und auch, daß das Stück, als es 1962 im Burgtheater uraufgeführt wurde, ein voller Erfolg gewesen war, auch wenn damals noch das Vorhangverbot herrschte und er sich dem Publikum nicht zeigen konnte.

„Fahrscheinkontrolle!”, die Stimme des Kontrollors wirkte noch ungeduldiger. Johannes Schwarzinger schaute ihn nochmals hilflos an.

„Ich bin der berühmte Romancier und Dramatiker. Erkennen Sie mich nicht?”, würde aufschneiderisch klingen, das konnte er sich vorstellen. Aber würde der andere ihm glauben, daß er sich nicht erinnern kann, ob er einen Fahrschein hat?

„Fahrschein, was ist ein Fahrschein?”, hat dagegen der alte Eduard gefragt, wenn ihn die Kontrollore kontrollieren wollten, aber damals war er ein junger Mann und hatte soviel zu schreiben, daß keine Zeit war, mit der Straßenbahn vom Donaukanal zum Schwarzenbergplatz zu fahren. Ob diese Richtung stimmte, auch das wußte er nicht und geriet allmählich in Panik, hörte er den Kontrollor doch etwas von „Polizeieinsatz”, murmeln und das konnten sie ihm nicht antun. War er doch ein berühmter Mann, der 1955 den Wildganspreis, 1985 den kleinen und 1989 den großen Staatspreis bekommen hat, von den internationalen Auszeichnungen ganz zu schweigen, aber das würde die Herren Kontrollore nicht interessieren, obwohl er immer volkstümlich geschrieben hat, da war er nie elitär und abgehoben. Aber Ruhm ist bald vergessen, vergaß er ja auch sehr viel und so begann er hilflos in die Jackentasche zu greifen, um ohne jede Hoffnung das erstbeste Stück Papier herauszuziehen, denn er wollte keine Schwierigkeiten mit jungen Polizisten, die nicht wußten, daß, wenn seine Stücke im Burgtheater aufgeführt worden waren, dieses öfters unter Polizeischutz stand, weil reaktionäre Kreise, die seine mahnenden Worte nicht ausgehalten hatten, eine Premiere durch Bombendrohungen zu verhindern suchten. Im Burgtheater war es, dachte Johannes Schwarzinger und zog eine Karte aus der Jackentasche. Vielleicht konnte er mit einem Autogramm die Kontrollore beruhigen und der jüngere schien auch zufrieden, denn er tippte den anderen an und sagte „Laß ihn in Ruhe, er hat ja eine Netzkarte!”, während der andere auf den Polizeieinsatz zu insistieren schien. Johannes Schwarzinger konnte ihn deutlich „Wir können doch den dementen alten Trottel nicht alleine durch die Stadt fahren lassen!”, murmeln hören und das war wieder ein Satz, den er aus seinen Stücken kannte und er sah nun auch, daß die Straßenbahn die Station „Schwedenplatz” erreichte. Er mußte aussteigen, konnte er sich doch erinnern, daß Schwester Rosalia auf ihn wartete, zumindest wußte er, daß sie Stammgast im Eissalon dort und eine ganz Süße war. Zitrone, Banane, Marzipan auch daran konnte er sich nun erinnern. Wußte, daß das ihre Lieblingssorten waren, also die Karte in die Tasche stecken und aufstehen.

„Entschuldigen Sie!”, sagte er zu den beiden Kontrolloren.

Ich muß aussteigen und kann Ihnen daher kein Autogramm geben. Schwester Rosalia wartet auf mich!”

Dabei war das gar nicht wahr. Wußte er doch nur, daß sie eine begnadete Eisliebhaberin war. Eine ganz Süße, vielleicht kannte er aber auch keine Schwester Rosalia. Auch sie konnte ein Streich seines Gedächtnisses sein. Egal, jedenfalls war er auf diese listige Art und Weise aus der Straßenbahn und sehr elegant an den beiden Männern vorbeigekommen und stand jetzt auf einem großen Platz. Nur, dort kannte er sich erst recht nicht aus. Er konnte aber in den U-Bahnschacht hinuntersteigen, vielleicht war das eine gute Idee, dachte Johannes Schwarzinger nun wieder hilflos und blickte erneut die Schuhe an. Wo hatte er die nur schmutzig gemacht? Sollte es Taubenmist gewesen sein, auf den er gestiegen war? Dabei war er sehr aufmerksam und Tauben füttern war ja auch nicht sehr erwünscht. Jedenfalls stand er gerade vor einem Schild auf dem sich lesen ließ, daß die Stadtverwaltung aus Gründen von Hygiene und Sauberkeit ersuchte, die Tauben nicht zu füttern und wieder schüttelte Johannes Schwarzinger seinen ergrauten Kopf und ließ von seinen verschmutzten Schuhen ab. „Tauben füttern” hieß ja eines seiner Stücke, das er geschrieben hat, als er noch berühmt gewesen war. „Tauben füttern” hat es geheißen, das wußte er genau, wovon es aber gehandelt hat, war ihm entfallen. Zumindest konnte er sich augenblicklich nicht daran erinnern, nur, daß da ein liebes junges Mädel war, während jetzt eine etwa dreißigjährige Nonne im schwarzen Schwesternkleid und Schleier auf ihn zukam und ihn mit „Hier sind Sie Herr Professor! Endlich habe ich Sie gefunden. Ich habe schon auf Sie gewartet!”, begrüßte.

„Wo sind Sie nur gewesen? Sie sollen doch nicht allein mit der Straßenbahn fahren. Ich habe mich um Sie gesorgt!”

Sie wirkte wirklich aufgeregt, die liebe Krankenschwester in ihrem schwarzen Schwesternkleid. Wie kam er nur zu ihr? Auch das wußte er nicht, wenn er sich auch erinnern konnte, daß sie eine Süße war und gerne Eis naschte, aber vielleicht fiel ihm das nur ein, weil er vor sich einen Eissalon sah.

„Kommen Sie, Schwester Rosalia!”, hörte er sich zu ihr sagen.

„Ich lade Sie auf einen Eisbecher ein. Zitrone, Erdbeere und Banane, das mögen Sie doch gern?”

Und sie ließ sich von ihm an den Tresen führen und etwas später saßen sie auf einer Bank und sie schleckte genüßlich ihr Eis, während er genauso genüßlich auf ihre gesunden weißen Zähne sah. Jetzt merkte er erst, daß es heiß war und er in dem grauen Anzug den er trug, sehr schwitzte. Während er sie sagen hörte, daß er nicht vergessen solle, daß morgen Samstag und auch am Sonntag der Zivildiener Max ihn betreuen würde, weil sie mit dem Pfarrer und den anderen Caritasschwestern nach Mariazell wallfahren würde.

Was sagte sie da nur, das liebe Mädel? „Die Farbe der Mächtigen ist schwarz, nicht braun”, fiel ihm ein. Stand das nun in seinen oder in der anderen Bücher? Er wußte es schon wieder nicht, sah nur die schwarzgekleidete liebe Krankenschwester neben ihm und wunderte sich darüber, weil er nicht katholisch war. Das liebe Mädel aber lachte und schleckte genüßlich an ihrem Eis.

„Ja, ich weiß Herr Professor. Sie halten nichts von der katholischen Kirche. Wir haben schon oft darüber diskutiert. Aber lassen Sie mir meine Mariazellwallfahrt. Denn ich freue mich schon sehr darauf und der Max wird Sie auch sehr gut betreuen und am Montag komme ich schon wieder. Versprechen Sie mir nur zu Hause zu bleiben und nicht soviel herumzulaufen, denn der Max kommt aus Oberösterreich und kennt sich hier noch nicht gut aus. Er würde Sie vielleicht nicht finden. Ich wäre dann in Sorge und könnte mich über meine Pilgerfahrt nicht so freuen. Also bitte, Herr Professor versprechen Sie mir das, seien Sie so gut!”, bat das liebe kleine Mädel, die katholische Krankenschwester, in ihrem schwarzen Schwesternkleid, die sich Rosalia nannte, wie er sich erinnern konnte und Johannes Schwarzinger versprach es ihr auch. Konnte er den blauen Augen und ihrem treuherzigen Blick doch nicht widerstehen, wenn er sich auch nicht ganz sicher war, ob er sein Versprechen halten konnte.


Alfred Nagl
Last modified: Mon Feb 19 19:04:30 CET 2007