In den Wolken leben oder das soziale Kreditsystem

Im dritten Corona-Frühling will sich die Psychologin Steffi Schuster mit dem in China praktizierten sozialen Kreditsystem beschäftigen, um Sinn in ihr Leben zu bringen. Aber wie macht man das? Da gibt es zwar ihr chinesisches „Patenkind”, das wegen der Einkindpolitik nach Wien gekommen ist. Sun-Jong Edelbauer hat aber andere Sorgen und dann lernt Steffi Schuster in ihrer Lieblingskonditorei einen britischen Englischlehrer kennen, der George Orwells „1984” neu und umschreiben will.

23.

„Sie haben am sechzehnten Mai Ihre Stromration überschritten, Winston Smith, und daher einen weiteren Schlechtpunkt in Ihrem sozialen Punktesystem bekommen! Da müssen wir mit einander reden und Sie haben sich am nächsten Morgen mittels Videokonferenz in meiner Sprechstunde einzufinden! Bestätigen Sie die Anweisung Ihres Maßnahmenbetreuers O`Brien!”, leuchtete auf Winstons Handy, das er, wie vorgeschrieben, um den Hals trug.

„Verdammt, verdammt!”

Da war schon wieder eine Mahnung! Wenn er so weitermachte, war sein Urlaub dahin und er bekam am Ende eine Ausgangssperre! Verdammt, verdammt! Dabei hatte er soweit er wußte, sein Stromkonto gar nicht überzogen oder jedenfalls versucht, so sparsam wie nur irgend möglich mit der ihm zugeteilten Ration auszukommen und was das Schlimmste war, war seiner Freundin Julia vor ein paar Tagen das Gleiche passiert! Da hatte sie verbotenerweise, obwohl er sie gewarnt hatte, ein Bad genommen! Der große Bruder, der alles mitbekam, hatte das natürlich gleich gespeichert und ihr ebenfalls eine Strafsitzung verpaßt! Also wurde es auch mit ihrem Konto knapp und sie befanden sich demnächst wegen ungebührendem Verhaltens wieder im Lockdown und auf dem öffentlichen Pranger, der sozialen Überwachungsapp! Verdammt, verdammt, wo waren sie nur hingekommen? Das hätte er sich vor fünf Jahren nicht geträumt, daß er einmal in einer solchen Misere landen würde! Da hatte er in London in einer Highschool Englisch unterrichtet, Julia kennengelernt und war mit ihr, nachdem England aus der europäischen Union ausgetreten war, nach Österreich übersiedelt, weil Julia, wie sie immer betonte, eine Wiener Großmutter hatte und von dieser Stadt sehr schwärmte! Da hatte es ihm Anfangs auch sehr gefallen. Er hatte im British-Council eine Stelle gefunden. Julia arbeitete als Modedesignerin. Dann war die Pandemie ausgebrochen und damit hatte das Unglück angefangen. Da war er sich ganz sicher. Die Pandemie, der Lockdown, die Ausgangssperre, die Masken- und die Testpflicht! Die Impfpflicht war auch eingefordert und dann letztendlich wieder ausgesetzt worden! Er und Julia hatten die Zähne zusammengebissen und sich impfen lassen, was er als Lehrer auch mußte. Julia hatte sich regelmäßig testen lassen und Maske hatten sie auch getragen. Zuerst hatte Julia die selbst designet. Später war die weiße oder schwarze FFP2-Maske verpflichtend geworden und während er sich noch fragte, wer das alles zahlen sollte, war schon die nächste Krise hereingebrochen! Rußland hatte der Ukraine den Krieg erklärt und alle russischen Künstler, die in Europa lebten, wie beispielsweise die berühmte Operndiva Anna Netrebko, waren auf die schwarze Liste gekommen und der Präsident der Ukraine hatte alle Staaten aufgefordert Waffen zu liefern und ihn im Kampf zu unterstützen! Die Folge waren die Sanktionen der europäischen Staaten gegen Rußland gewesen, was zu einer Gasknappheit und einer allgemeinen Teuerung, die sich schon vorher unterschwellig angekündigt hatte, führten. Der Strom, das Öl, das Benzin, die Fernwärme und auch die Lebensmittel waren teurer und teurer geworden und nun gab es „Die große Bruder-Überwachungsapp”, die seit Anfang des Jahres zum Wohle aller jeder um den Hals tragen mußte. Damit wurden der Strom und Gasverbrauch überwacht. Das Baden war verboten und der Kalorienverbrauch rationalisiert worden.

„Verdammt, verdammt!”, fluchte Winston Smith nochmals vor sich hin und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was sollten er und Julia machen, wo doch jeder Widerstand zwecklos war? Zwar hatte es schon in Corona-Zeiten Demonstrationen gegeben, die waren aber bald den Rechtsradikalen zugezählt worden, die man bekämpfen und verbieten mußte und als im letzten Herbst die Leute wegen der Teuerung auf die Straße gingen, hatte man den Staatsschutz eingeschaltet. Dann war der Strom, das Gas und auch das Meiste andere rationalisiert worden und mit der „Großen Bruder-Überwachungsapp”, die man im Handy mit sich trug, kontrolliert worden.

„Großer Bruder-Überwachungsapp!”, fluchte Winston Smith vor sich hin und schüttelte verächtlich den Kopf. War ihm doch eingefallen, daß es seinem Vater vor vierzig Jahren auch nicht viel anders gegangen war. Das heißt, eigentlich kannte er seinen Vater gar nicht. War er doch in einem Waisenhaus aufgewachsen, wo ihm die dortige Vorsteherin mitgeteilt hatte, daß seine Eltern bei einem Unfall gestorben waren, weshalb er vom Staat aufgezogen wurde. Dann war aber eine Frau aufgetaucht, die sich als seine Großmutter vorgestellt hatte und als die damalige Diktatur vorüber und Großbritannien wieder Demokratie geworden war, ihn zu sich genommen hatte. Da war er eigentlich sehr behütet aufgewachsen. Hatte nach dem Abitur englische Literatur studiert und war Lehrer geworden, was ein Beruf war, der ihm sehr gefiel und die Großmutter hatte ihm vor ihrem Tod noch die Geschichte seiner Eltern zugeflüstert, die offenbar gar keinen Autounfall hatten. Die Mutter hatte Julia, wie seine Liebste geheißen, beide waren dem sogenannten Wahrheitsministerium zum Opfer gefallen und jetzt sollte sich die Geschichte offenbar wiederholen?

„Verdammt, verdammt, das gibt es doch nicht! Das darf nicht sein!”, fluchte Winston Smith vor sich hin und schüttelte den Kopf mit seinen dunkelblonden Haaren. Dann drückte er auf sein Handy und gab seine Zustimmung zur verordneten Videokonferenz zu erscheinen. Blieb ihm doch nichts anderes über. Er hatte keine Wahl.