Radiosonate

Was passiert, wenn man so allein und einsam ist, daß man niemand anderen als die anonymen Stimmen zweier Radiomoderatoren hat, die einen durch den Tag begleiten?

Die wenig erfolgreiche Schriftstellerin Elsa Eisenstein möchte mit der Beantwortung dieser Frage die ultimative Romanausschreibung eines deutschen Großverlages gewinnen.

Während der Ressortchef des Kulturprogramms seine beginnende Parkinsonerkrankung seiner Kollegin Amanda Silberkandl verheimlichen will.

Aber die hat andere Sorgen, da sie gerade von einem tschetschenischen Asylwerber eine unbekannte Mozartsonate zugesteckt bekommen hat und auch noch mit ihrer sich in der Pubertät befindenden Tochter Natalie zurechtkommen muß.

Wie meist in meinen Texten geht es auch hier um das Leise, leicht zu Übersehende in einer perfekt stilisierten immer inhumaner werdenden Welt.

Eva Jancak

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Es war gerade acht vorbei, wie Xaver Mayerhofer an seinem Handgelenk sehen konnte, als der U-Bahnzug mit einem unerwartetem jähen Ruck nach vorne sprang und stehen blieb. So scharf gebremst, daß die wenigen Passagiere, die an diesem frühen Morgen unterwegs zu einem Kirchgang waren oder verkatert von den Festivitäten nach Hause fuhren, nach vorn fielen. Auch Xaver Mayerhofer wäre ein Opfer dieses Rucks geworden und fast vom Sitz gefallen, wenn es ihm im letzten Moment nicht gelungen wäre, sich anzuklammern.

„Verdammt, verdammt!”, fluchte er in sich hinein und spürte das Zittern seiner Finger. Die unkoordinierten schnellen Zuckungen, die er selbst nicht steuern konnte und fürchten gelernt hatte, waren wieder da. Der U-Bahnzug stand still zwischen der Station „Taubstummengasse” und dem „Karlsplatz”, wo er in die U4 umsteigen wollte, um in seine Wohnhaushälfte in Ober St. Veit zu gelangen. Das aber länger nicht tun konnte, da jetzt eine Tonbanddurchsage erklang, die den werten Fahrgast darüber informierte, daß es bedauerlicherweise zu einer Verzögerung gekommen war. Es hatte eine Notbremsung gegeben. War also am frühen Morgen des neuen Jahres, wo alles besser werden sollte, einer dieser U-Bahnjunkies dem unbedarften U-Bahnlenker auf die Geleise gesprungen, um sein jämmerliches Leben zu beenden? Was dem Fahrer einen Schreckenstag bereiten würde, der dann sicher psychologisch betreut werden mußte. — Die Stimmung im Zug hatte sich inzwischen beruhigt. Das junge Mädchen mit den dunklen Wuschelhaaren, das auf den Boden gefallen war, hatte sich wieder hingesetzt und einen Spiegel aus der Handtasche gezogen, um ihre Haarpracht zu ordnen und ein älterer Mann in einer karierten Jacke untersuchte fachmännisch den Oberarm seiner Begleiterin nach etwaigen Verletzungen, die man der Versicherung melden konnte, sonst war nichts geschehen. Der Zug stand still, während das arme Schwein, das am ersten Jänner nichts anderes zu tun gewußt hatte, als sein Leben zu beenden, abtransportiert wurde, besprachen die wenigen Morgengäste das Geschehen. Xaver Mayerhofers Zittern verstärkte sich.

„Verdammt, verdammt!”

Jetzt konnte er die Zuckungen gar nicht mehr kontrollieren. Die Koordination seiner Gliedmaßen war ihm zur Gänze entglitten, er spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Es könnte ihm zwar egal sein, denn Amanda Silberkandl befand sich nicht im Zug. Die ehrgeizige Kollegin, die ihn nicht dabei erwischen durfte, war noch im Rundfunkgebäude, schrieb sie ja an ihrer Dissertation, mit der sie berühmt werden wollte, während ihre Tochter, für die es, wie er gehört hatte, keinen Vater gab, vielleicht die war, die sich den goldenen Schuß gesetzt hatte und in ihrem Dusel auf die Schienen gestürzt war.

„Stop, halt!”, rief er sich zur Ordnung zurück. Keine unbestätigten Gerüchte verbreiten, die er in der Kantine gehört hatte. Das hatte er auch in dieser Situation nicht nötig. Er würde korrekt bleiben und sich an die Spielregeln des guten Geschmacks halten. Auch wenn er sicher war, daß ihn die ehrgeizige Kollegin verdrängen wollte, würde er ihr nichts Schlechtes nachsagen und auch nicht wünschen, daß es ihre Natalie war, die von den Sanitätern weggetragen wurde, während der U-Bahnzug auf das Weiterfahren wartete. Das Zittern seiner Finger brauchte Amanda Silberkandl trotzdem nicht zu sehen, da er sicher war, daß sie nur auf eine Schwäche wartete, um ihrerseits Gerüchte zu verbreiten, die ihm schaden konnten. Mobbing nennt das die moderne Psychologie, das wußte er von Viktoria, die an diesem Thema forschte und publizierte, daß die jungen Frauen, die Karriere machen wollten, keine Scheu und keine Schuldgefühle mehr empfanden, die, die ihnen dabei im Weg standen, zu verdrängen. Jedes Mittel, das dabei helfen konnte, würde dankbar aufgegriffen, hatte ihm die Exfrau, die selbst nicht zimperlich war, erzählt. Eine beginnende Parkinson-Erkrankung des Ressortchefs war die beste Gelegenheit dieses Ziel zu erreichen. Eine Gottesgabe für Amanda Silberkandl, die sich für das neue Jahr nichts Besseres wünschen konnte, wäre das. Deshalb tat er gut daran, ihr das Zittern seiner Finger zu verbergen. Da er jahrelang mit einer Psychologin verheiratet gewesen war, war ihm das klar gewesen, als er vor zwei Wochen von seinem Neurologen die Diagnose mitgeteilt bekommen hatte.

„Das darf die schöne Amanda nicht erfahren!”, hatte er gedacht und sich darauf konzentriert, ihr das Zittern zu verbergen, was die Sache natürlich schlimmer machte. Denn er sollte sich entspannen, wie ihm der Neurologe eingetrichtert hatte. Wie konnte man das aber in einem Funkhaus, wo jeder jeden belauert und die ehrgeizigen Kollgen nur auf den geringsten Fehler warten? So war die Silvesternacht und der darauffolgende Morgen die Hölle für ihn gewesen. Während er scheinbar locker vor sich hingescherzt hatte, um die Hörer zu unterhalten, hatte er den Schweiß auf seiner Stirn gespürt, aber gezittert hatte er nicht. Saß er doch der ehrgeizigen Kollegin gegenüber, die jede seiner Bewegungen genau beobachtete. So hatte er sich zusammengerissen und locker vor sich hingeplaudert und um sieben sehr erschöpft und äußerst angespannt das Studio verlassen. Die nächste halbe Stunde hatte er im Badezimmer verbracht, um den Schweiß von seiner Stirn herunterzuwischen. Danach hatte er in der Kantine einen starken Mokka zu sich genommen und ein großes Glas Wasser getrunken, um sich zur U-Bahnstation zu begeben und nach Hause zu fahren. Das Neujahrskonzert würde er auslassen. Das hatte er sich schon vorgenommen, als ihm der Neurologe die Diagnose noch nicht übermittelt hatte. Da hatte er der ehrgeizigen Kollegin mit gönnerhafter Miene ein großzügiges Weihnachtsgeschenk gemacht, als er sich für den ersten Jänner Urlaub genommen und ihr die Karte überlassen hatte. Mit einer huldvollen Bewegung hatte er der schönen Amanda seine Einladung übergeben, weil er es nicht nötig hatte, hinzugehen. Sollte sie statt ihm im Musikvereinssaal brillieren. Er würde sich die Walzerklänge zu Hause anhören und wahrscheinlich nicht einmal das. Johann Strauß und Konsorten hatte er nicht nötig, die Neujahrskonzerte interessierten ihn nicht mehr. Davon hatte er im Lauf seines Lebens genug gehabt. War er doch schon zum Ressortchef aufgestiegen und würde den Rest seiner Berufszeit mit Wichtigerem verbringen. Mit Mozart und Schubert beispielsweise und die Walzerklänge Amanda Silberkandl überlassen, wenn er sich schon die Silvesternacht nicht entgehen lassen hatte können. Die hatte er natürlich mitmoderiert. Das hatte er die schöne Amanda nicht alleine machen lassen. Soweit war es noch nicht. Obwohl es die Hölle gewesen war, wie er am Zittern seiner Hände merken konnte. Die Karte für das Neujahrskonzert aber huldvoll der Kollegin überreicht, die sich höflich bedankt hatte. Die Leitung der Musikredaktion würde er so schnell nicht abgeben. Das würde nicht einmal Amanda Silberkandl verlangen, die von seiner Diagnose nichts wußte und die sich, wie es schien, sogar darüber geärgert hatte, daß er sie ins Neujahrskonzert schickte, während er nach Hause fuhr. Aber jetzt war er im U-Bahnzug gefangen und hörte die neuerliche Mitteilung, daß der Zug infolge einer Fahrgasterkrankung einen unplanmäßigen Aufenthalt hatte. Die Passagiere nahmen es gelassen und versuchten vor sich hinzudösen oder scherzten über die verklausulierte Formulierung. Schließlich war Feiertag und man hatte es nicht eilig. Nur die Hände zitterten, wie verrückt. Auch wenn er so geschützt saß, daß es keiner sehen konnte, war es unangenehm. Außerdem war er müde und sehnte sich ins Bett, statt die Zeit sinnlos in der U-Bahn zu verplempern, weil irgendein Verrückter auf die Schienen gesprungen war.

„Stop, halt!”, auch in dieser Situation wollte er nicht zynisch sein, das hatte er nicht nötig. Lieber den armen Teufel bedauern, der sicher nicht Amanda Silberkandls Tochter war und sich in Geduld üben. Den unfreiwilligen Aufenthalt zur Entspannung nützen und das Neujahrskonzert seinen Lauf nehmen lassen. Sein Spezialgebiet war Schubert und Mozart, statt Strauß und Lanner und Amanda Silberkandl sah das ebenso und würde sich bei den Walzerklängen im Musikvereinssaal wahrscheinlich langweilen oder aber die Gelegenheit nützen, ihre Beziehungen spielen lassen und ihre Vormachtstellung auszuweiten, während er hilflos im Bett lag und seine entfesselten Glieder zu kontrollieren versuchte.

„Stop, halt!”, auch das wollte er nicht denken. Sich in keine Paranoia hineinsteigern, sondern sachlich bleiben. Noch war er eingeklemmt zwischen „Taubstummengasse” und „Karlsplatz” und konnte nicht in den Musikvereinssaal, selbst wenn er es wollte, um die schöne Amanda zu kontrollieren. Wenn er demnächst sein Wohnhaus erreichte, sollte er die Tabletten nehmen, die der Neurologe ihm verschrieben hatte. Bisher hatte er sich nicht durchringen können, sich von den Medikamenten ab\-hän\-gig zu machen und seinen Körper zu vergiften. Aber der Neurologe mit dem Silberblick und den salbungsvollen Worten hatte natürlich Recht. Das wußte er schon.

„Ein Morbus Parkinson ist keine Kinderkrankheit, Herr Doktor!”, hatte er mit ernsten Blick und einer Stimme, die ihn an die schöne Amanda denken ließ, gemahnt und das stimmte schon. Auch wenn er die Diagnose bis jetzt zu verdrängen versucht hatte. Nun würde er die Sache ernster nehmen, versprach er sich. Das mußte er, wenn er an die Höllenqualen, der vergangenen Nacht dachte und das Zucken seiner Finger sah, da hatte er keine Chance, als sich an die Kandare zu nehmen und das, wenn es sein mußte, zu seinem Neujahrsvorsatz machen. Hatte er ohnehin noch keinen solchen, weil er nicht dazu gekommen war. Als er vor achteinhalb Stunden mit der schönen Amanda angestoßen hatte, hatte er an etwas anderes gedacht. So gesehen konnte er dem armen Teufel, der sein Leben nicht mehr ausgehalten hatte und am frühen Morgen auf die Schienen gesprungen war, dankbar sein, auch wenn er das nicht denken wollte. Da er es aber ohnehin nicht ändern konnte, würde er die Wartezeit zur Entspannung nützen. Tief durchatmen. Er merkte mit Befriedigung, daß ein Ruck durch den Waggon ging und der Zug mit einer sanfteren Bewegung, als vorhin, langsam weiterfuhr.


Alfred Nagl
Last modified: 2009-03-09 18:40:20