Paula Nebel

Die letzten Tage einer alten Frau. Da geht einer wahrscheinlich das ganze Leben durch den Kopf herum.

Besucher kommen, die Erinnerung an die Kindheit, die tote Großmutter, an deren Sterbebett die dreizehnjährige Paula, damals in der Zeit der Arbeitslosigkeit, drei Tage saß, das eigene Kind, das die zwanzigjährige Studentin 1942 nicht selbst aufziehen konnte, sondern von der Fürsorge auf den be- rühmten Spiegelgrund gebracht wurde. Der Enkel Rainer, der jetzt einen Ausbildungsplatz als Internist sucht.

Aber auch ganz reale Begegnungen, da gibt es den gehemmten Hausmeister Hans, der die Einkäufe in die Wohnung in den zweiten Stock hinaufträgt und die kleine Sofia, eine Romni aus Temeswar, die einmal in Paulas Handtasche gegriffen hat, jetzt aber in die Schule gehen will, um Kindergärtnerin oder Sozialarbeiterin zu werden.

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

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Herr Hans hatte beim Hinauftragen der Einkäufe geholfen, war er ja ein kräftiger junger Mann, dem es nichts ausmachte, die Tasche mit den Milchpaketen, dem Brot und dem Gemüse mit einem Schwung in die Hand zu nehmen und so schnell, wie sie gar nicht schauen konnte, in den zweiten Stock zu befördern.

„Machen wir schon, Muttchen! Ich hatte auch eine Oma bei der ich aufgewachsen bin, weil meine Mutter, die nicht verheiratet war, arbeiten mußte und keine Zeit für mich hatte!”, hatte er erklärt und war mit ihrer geblümten Einkaufstasche vor der Wohnungstüre stehengeblieben.

„Paula Nebel — Nebelchen — Nebelschwaden”, rezitierte er dabei fast poetisch, sah sie fragend an und wollte wissen, ob sie Lehrerin gewesen war?

„Wie kommen Sie darauf? Ich habe Psychologie studiert und als Kinderpsychologin gearbeitet!”, antwortete sie verblüfft. „Aha!”, sagte er und fragte nach einer Weile nachdenklich, ob das nicht dasselbe wäre?”

„Wie man es nimmt!”, antwortete sie und sah ihn ein wenig hilflos an. War sie sich doch nicht sicher, ob es stimmte und heute noch so war, wie es gewesen war, als sie in Pension gegangen war. Damals waren die Psychologie und der Lehrberuf getrennt gewesen. Aber in dreißig Jahren konnte viel geschehen. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Wahrscheinlich war Herr Hans so alt. Als sie danach fragte, nickte er bedächtig und erklärte, daß er demnächst dreiunddreißig würde. „Dann sind Sie in den Kindergarten gekommen, als ich in Pension gegangen bin!”, sagte sie. Sperrte die Wohnung auf und fragte, ob sie ihn auf eine Tasse Tee einladen dürfe?

„Bier habe ich nicht zu Haus, das trinke ich nämlich nicht!”

Er antwortete etwas verlegen „Wenn ich Ihnen keine Umstände mache und Sie sich vor mir nicht fürchten. Wenn Sie aber Psychologin waren, haben Sie vor Menschen keine Angst!”

„Sie meinen, weil wir uns noch nicht so lange kennen? Wir haben uns doch schon einige Male im Supermarkt getroffen und Sie waren auch so nett, mir beim Tragen zu helfen!”, widersprach sie freundlich, bat ihn in die Küche, wo sie die Teekanne mit Wasser füllte und auf die Herdplatte stellte.

„Wenn Sie dreißig Jahre in Pension sind, müssen Sie schon neunzig sein!”, rechnete Herr Hans, als er die geblümte Plastikasche auf den Tisch stellte, sie nickte erneut.

„Stimmt!”, antwortete sie energisch.

„Vor drei Wochen bin ich das geworden!”

Dabei fiel ihr ein, daß zu diesem Anlaß eine Frau vom sozialen Stützpunkt bei ihr geläutet hatte, um ihr den Umzug in ein Pensionistenheim oder die Anspruchnahme einer Heimhilfe schmackhaft zu machen. „Das wäre doch etwas für Sie, Frau Nebel!”, hatte sie gesagt und nichts von Nebelschwaden hinzugefügt. Ofenbar war sie nicht so poetisch, wie Herr Hans. Sie hatte die Besucherin energisch angesehen. „Wo denken Sie hin!”, empört geantwortet.

„Oder sehen Sie Schimmel im Eiskasten und verdorbene Lebensmittel? Ich komme schon allein zurecht und mache meinen Haushalt selbst! Wie Sie merken, ist es aufgeräumt oder täusche ich mich?”, scharf gesagt und die Stützpunktfrau hatte betroffen den Kopf geschüttelt, wie sie vergnügt bemerkte.

„Die Stadt macht Ihren Bürgern das Angebot und es ist meine Aufgabe, es zu unterbreiten. Glauben Sie mir, in Zeiten, wie diesen, wo man sparen muß, ist es nicht mehr einfach, die soziale Sicherheit aufrechtzuerhalten. Es gibt Länder in Europa, die das ihren Bürgern nicht mehr bieten können!”, hatte sie mit roten Kopf doziert. Paula hatte sich gefreut und ebenfalls Tee angeboten.

„Damit Sie sehen, daß ich das zusammenbringe. Welchen möchten Sie denn gern? Ich habe Schwarzen, Hagebutten, Pfefferminz und Kamille?”

Herr Hans wünschte Pfefferminz und da das Wasser inzwischen kochte, nahm sie vorsichtig die Kanne von der Platte und füllte zwei der geblümten Tassen voll.

„Wünschen Sie auch Zucker?”, erkundigte sie sich, stellte die Keksdose auf den Tisch und fragte Herrn Hans, ob er Lehrer wäre?

„Nein!”, antwortete er und schaute wieder verlegen drein.

„Ich bin kein Studierter, sondern Hauswart in einem Studentenheim!”, dann löffelte er Zucker in die Tasse und dankte für den Tee.

„Ich will nicht mehr stören und wenn Sie wieder etwas zu tragen haben, helfe ich gern. Leben Sie allein oder haben Sie Kinder und Enkelkinder?”, wollte er wissen und blickte auf das Fensterbrett, als würde er nach Fotos suchen. „Wie das so ist mit neunzig Jahren. Da sind die meisten, mit denen man zusammenlebte, schon gestorben. Ich hatte eine Tochter, die Regina, vor siebzig Jahren wurde sie geboren. Aber keinen Kontakt zu ihr. Sie ist auch schon tot!”, sagte sie wieder etwas hilflos und fügte rasch „Wundern Sie sich nicht über meine Vergeßlichkeit!”, hinzu. „Wenn man so alt wie ich ist, kann man sich nichts mehr merken und bringt nicht mehr alles zusammen. Ich habe aber einen Einkelsohn, das weiß ich, der ist so alt, wie Sie oder ein paar Jahre jünger. Dreißig ist er unlängst geworden. Rainer heißt er und hat Medizin studiert. Jetzt ist er mit dem Turnus fertig, sucht eine Facharztstelle und hat wenig Zeit. So bin ich wirklich viel allein. Im Wohnzimmer gibt es von beiden Bilder. Wenn Sie wiederkommen, zeige ich Sie Ihnen und Sie erzählen mir von Ihrer Großmama!”, sagte sie und mußte an die Nebelschwaden denken, als sie die Türe hinter ihm geschlossen hatte. Herbst, Frühling, Sommer, Winternebel. Interessant, obwohl sie eigentlich nicht poetisch war oder doch ein bißchen. Sie hatte aber keine Gedichte geschrieben und auch keine Geschichten. Las nur gern und hatte sich darauf gefreut, Zeit für ihre Bücher zu haben, als sie in Pension gegangen war. Wie lange war das her? Dreißig Jahre hatte sie mit Herrn Hans ausgerechnet. Vor dreißig Jahren waren die Frauen mit Sechzig in Pension geschickt worden. Heute hörte sie in den Nachrichten, daß das Pensionsalter hinaufgesetzt wurde und war gar nicht mehr sicher, wann die Pension begann. Damals hatte man das nicht gehört und war gern in Pension gegangen oder hatte sie das Institut für Erziehungshilfe vermißt? Auch das wußte sie nicht mehr. Jetzt tat sie das jedenfalls nicht. Interessant, daß Herr Hans von seiner Großmutter erzählt hatte. Obwohl sie mit Großmüttern keine guten Erfahrungen hatte. Genausowenig, wie mit Töchtern, denn auch ihre Erfahrung mit Regina war nicht positiv gewesen. Aber das hatte sie Herrn Hans nicht erzählt. Kannte sie ihn nicht gut genug, um so intim zu werden. Vor ein paar Wochen oder Monaten hatte sie ihn im Supermarkt getroffen und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Er hatte auch nicht viel von sich erzählt, nur heute, daß er bei seiner Großmutter aufgewachsen und als Hauswart in einem Studentenheim beschäftigt war. Sie war ebenfalls bei ihrer Großmutter aufgewachsen. Das war lange her. Damals war die Zeit der Arbeitslosigkeit gewesen. Der Vater hatte keine gehabt und war verschwunden. Die Mutter hatte in einem Gasthaus aushelfen können und das dreizehnjährige blasse Mädel bei der kranken Großmutter zurückgelassen, die im Bett gelegen war und sich nicht rührte. Drei Tage hatte sie das nicht getan. Sie war mit vor Entsetzen geweiteten Augen dabei gesessen, hatte nicht gewußt, was sie machen sollte und sich nicht getraut, bei den Nachbarn anzuläuten, bis die Mutter endlich zurückgekommen war und ihr vorsichtig erklärte, daß die Großmutter gestorben war.

„Du bist nicht Schuld daran, Kindskopf, Paula, bilde dir das nicht ein, die Großmutter war alt und krank!”, hatte sie getröstet und ihr über den Kopf gestrichen. Sie hatte es nicht geglaubt. Die Mutter entsetzt angestarrt und als sie nach dem Begräbnis wieder in die Schule gegangen war, hatte sie still in der Bank gesessen. Es hatte eine Weile gebraucht, bis sie wieder gesprochen hatte. Heute nannte man das Traumatisierung. Das wußte sie aus dem Radio, das sie gerne hörte. Das Radio war ihr Tor in die Welt, die ihr sonst verschlossen wäre, um es pathetisch auszudrücken. Damals hatte man das nicht gewußt. Die Lehrer hatten sie verstockt genannt und mit den Rohrstock gedroht. Dann war der Krieg gekommen, der noch viel schrecklichere Traumatisierungen brachte und ihr als Studentin ein Kind beschied, auf das sie sich sehr freute und das sie gerne haben wollte. Nur leider war der Vater gefallen, bevor er sie hatte heiraten können und den Fürsorgerinnen schien die blasse Zwanzigjährige keine gute Mutter zu sein, so daß sie es ihr abnahmen und auf den berühmten Spiegelgrund brachten, von dem sie schon damals ahnte, was sich später als Wirklichkeit herausgestellt hatte. Damals hatte man es ihr nicht geglaubt und sie verrückt und hysterisch genannt. Später hatte sie recht behalten, den Kontakt zu Regina aber trotzdem verloren, die ihr die Jahre in dem Erziehungsheim vorwarf und nach dem Krieg lieber bei einer Pflegemutter als bei ihr sein wollte. Was schlimm für sie war, auch wenn sie sich einredete, daß das für ihr Studium besser war und sie sich beeilte, mit ihrer Dissertation über die Folgen der Kriegsjahre auf die kindliche Entwicklung fertig zu werden, um als Psychologin in einem Erziehungsheim arbeiten zu können. Ersatzbefriedigung nannte man das. Das wußte sie inzwischen, damals hatte sie es ebenfalls nicht gewußt. Vielleicht hatte sie es auch vergessen oder sie brachte etwas durcheinander, was mit neunzig Jahren verständlich war. Vielleicht war es gar nicht ihre Großmutter, die drei Tage lang tot im Bett gelegen war und es war nicht Regina, die man auf den Spiegelgrund gebracht hatte.

„Man vergißt ja viel!”, dachte Paula Nebel, trank den Rest von ihrem Tee und tauchte einen Keks hinein. Dann stand sie auf, um ihre Einkäufe einzuräumen und nickte mit dem Kopf. Es war gut an etwas anderes zu denken und die Nebelschwaden heraus zu bekommen. Sehr gut sogar.


Alfred Nagl