Novembernebel

Einen Monat vor ihrem achtzigsten Geburtstag bekommt Emma Huber einen Brief in dem sie aufgefordert wird „ihrer staatsbürgerlichen Verpflichtung nachzukommen und sich im allgemeinen Interesse selber zu entsorgen!”, was die alte Frau, die ihr ganzes Leben lang für die Interessen und der Pflege ihrer Familie dagewesen ist, erkennen läßt, da sie ihre Tochter Sophie, die eine arbeitslose Schauspielerin und prekäre Beschftigte eines Callcenters ist, sowie ihre Enkeltochter Ilona, die Germanistik studiert und gerade ihre Diplomarbeit schreibt, im letzten Jahr nur sehr wenig gesehen hat.

In weiterer Folge wird sie in ein Kriminalrätsel verwickelt, das bis in die freiheitliche Parteipolitik und zu einer Schweizer Sterbehilfeorganisation hinführt, das sie mit Hilfe eines an Krebs erkrankten Jugendfreundes und ehemaligen Spiegelgrundopfers aufklären will.

1.

Der Brief lag bei den Poststücken, die Emma Huber heraufgebracht hatte, als sie im Pennyladen Milch und Brot besorgt hatte. Sie hatte ihn unter den Reklamezetteln, die hauptsächlich im Hausbriefkasten lagen, seit man davon abgekommen war, sich Briefe und Postkarten zu schicken, gar nicht gesehen. Erst als sie sich an den Küchentisch setzte, um die Supermarktangebote zu studieren, fiel er in ihre Hand.

„Sonderbar!”, dachte die alte Frau und rückte die Brille, die von ihrer Nase ein wenig nach vorne gerutscht war, wieder zurecht.

„Höchst sonderbar!”

Durch das glatte Kuvert, das jetzt in ihrer Handfläche lag und darauf wartete, geöffnet zu werden, wurde ihr so recht bewußt, daß sie lange keinen solchen mehr erhalten hatte. Was nicht außergewöhnlich war, schrieb man sich doch keine Briefe mehr, außerdem fehlt es, wenn man beinahe achtzig ist, zumeist an Kontakten. Waren die Eltern, die Tanten und Cousinen doch lang dahingegangen und auch die Freundinnen, viele waren es ohnehin nicht gewesen, waren allmählich gestorben und da auch Erwin vor einem Jahr einem Krebsleiden erlegen war, gab es nur mehr Sophie und Ilona, die Tochter und die Enkeltochter und die hatten auch nicht geschrieben, als noch nicht alle auf eine Internetelektronik versessen waren, von der sie nicht viel verstand. Beinahe achtzig Jahre, da hatte sie es. In einem Monat hatte sie Geburtstag. Das war ihr eingefallen, als sie auf den Kalender gesehen hatte. Heute war der fünfundzwanzigste Oktober und am fünfundzwanzigsten November wurde Emma Huber achtzig Jahre alt. Der Brief kam bestimmt vom Bürgermeister oder Bezirksvorsteher, um ihr zu ihrem Ehrentag zu gratulieren. Warum war ihr das nicht schon früher eingefallen? Konnte sie sich doch erinnern, daß Erwin vor drei Jahren ein solcher Brief ins Haus geschneit war und auch er war erstaunt gewesen, da er außer seiner Frau, der Tochter und der Enkeltochter, niemanden hatte, dem es einfiel, zum Geburtstag zu gratulieren. Seltsam nur, daß das Stadtwappen oder die entsprechende Magistratsadresse auf dem Kuvert fehlte. Bei Erwins Glückwunschschreiben war das nicht so gewesen. Also war es doch nicht der übliche Geburtstagswunsch, es wäre auch zu früh dazu. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, war es besser das Kuvert aufzureißen und das Briefblatt herauszunehmen. Gedacht, getan. Emma Hubers Hand zitterte, als sie die weiße Seite, die wohl doch kein Glückwunsch war, herausholte, die Brille zurechtrückte und das Blatt dicht unter ihre Augen hielt. Die Hände zitterten sogar sehr, denn der Inhalt, der mit der Schreibmaschine oder richtiger mit einem dieser Computer, von denen sie nicht viel verstand, geschrieben und ausgedruckt worden war, war wirklich sonderbar und auch ein wenig furchteinflößend.

„Sehr geehrte Adressatin! Wir erlauben uns, Sie an Ihren Geburtstag Ende nächsten Monats zu verweisen. Da Sie zu diesem Datum achtzig werden und ein langes Leben hinter sich haben, fordern wir Sie auf, an die knappen volkswirtschaftlichen Resourcen zu denken und erwarten, daß Sie Ihrer staatsbürgerlichen Verpflichtung nachkommen und sich im allgemeinen Interesse selbst entsorgen! Wenn wir Ihnen mit fachkundlichem Rat und Tat zur Seite stehen können, wenden Sie sich vertrauensvoll an uns! Unter www.todt.at stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Ansonsten verbleiben wir mit hochachtungsvollen Grüßen und bestem Dank für Ihr Verständnis! Im Auftrag der Allgemeinheit! Hans Uwe Todt.”

Emma Hubers Hand zitterte und ihre schon ein wenig schwachen Augen mußten den Computerausdruck mehrmals überfliegen, bis sie die Zeilen verstand, die sie aufregten, auch wenn sie über die umständlich klingenden Formulierungen ein wenig lächeln mußte. War doch der Inhalt als Frechheit oder Drohung zu verstehen.

„Eine Frechheit oder eine Drohung?”, wiederholte Emma und schüttelte ratlos den Kopf. Wie sollte sie diese Aufforderung zum Selbstmord, das war es wohl, verstehen? War es ein dummer Scherz oder ernst zu nehmen? Auf jeden Fall war diese Botschaft viel beunruhigender, als des Bürgermeisters unverbindliches Glückwunschschreiben, das Erwin vor drei Jahren erhalten hatte.

Wie sollte sie den Brief verstehen?, fragte sich Emma immer noch ein wenig hilflos und überlegte, bei wem sie sich erkundigen konnte. - Erwin lebte nicht mehr und Sophie, die vor kurzem fünfzig geworden war, wohnte nicht bei ihr und genauso war das bei Ilona, der Enkeltochter. Da fiel ihr ein, daß sie die beiden länger nicht gesehen hatte. Bisher war ihr das nicht so aufgefallen. War Sophie ja berufstätig und Ilona schrieb gerade ihre Dissertation oder Diplomarbeit. Da war es klar, daß die beiden nicht viel Zeit hatten. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr das Begräbnis und der anschließende Leichenschmaus, bei dem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, ein. Nein, das stimmte nicht ganz. Zu Weihnachten waren die beiden gekommen, hatten ein Gesteck und einen Geschenkkorb mit Kaffee und Süßigkeiten mitgebracht. Ilona hatte sie zu ihrem Geburtstag telefonisch gratuliert, da die Enkeltochter ein Studiensemester im Ausland war und zu Sophies Geburtstag hatten sie in einem italienischen Restaurant Pizza gegessen und Chianti getrunken und die Tochter hatte ihr von ihren Sorgen erzählt, die sie in dem Callcenter hatte, in dem sie ihren Unterhalt verdiente, weil es ihr nicht gelungen war, als Schauspielerin die Karriere zu machen, die sie sich erträumte. Das war es und es war sicherlich keine böse Absicht, denn Sophie war eine gute Tochter, die sich sehr um sie kümmerte. Im letzten Jahr hatten sie sich aber nicht sehr oft gesehen. Emma war das gar nicht aufgefallen. War sie ja trotz ihrer beinahe achtzig Jahre gesund und rüstig und hatte das Jahr, da sie Erwins Pflege sehr aufgerieben hatte, zur Erholung benötigt, so daß sie gern alleine war und sie war auch gut damit zurechtgekommen. Aber jetzt war ihr dieser Brief ins Haus geschneit, der sie verwirrte und über den sie sich gern mit Sophie oder Ilona unterhalten hätte. Zu ihrem Geburtstag würden die beiden sie besuchen. Das war klar und selbstverständlich. Das war jedes Jahr so gewesen. Aber solange wollte sie nicht warten, dachte die alte Frau und beschloß die Tochter anzurufen. Wo hatte sie nur die Telefonnummer? Sie war ja selber schuld an der Misere, dachte sie und lächelte ein wenig. War es doch nicht so, daß die Tochter und die Enkeltochter sie vernachlässigten. Sie war froh gewesen, allein zu sein, denn das war sie ihr ganzes Leben nicht gewesen. Ihr Leben lang hatte sie mit anderen zusammengelebt. Als Kind und Jugendliche bei den Eltern, wie das normal und üblich ist. Damals herrschten schlimme Zeiten, es gab Krieg und Faschismus. Der Vater war eingerückt gewesen, dann lang vermißt und spät zurückgekommen. Sie hatte ihre Matura knapp nach Ende des dritten Reiches abgelegt, wo alles plötzlich anders war. Andere Werte und Weisheiten galten, als die, die sie in der Schule gelernt hatte. Vielleicht hatte sie deshalb Lehrerin werden wollen und die Lehrerbildungsanstalt absolviert. Aber als sie das Examen in der Tasche hatte und zu unterrichten beginnen wollte, war die Großmutter krank geworden und benötigte Pflege und auch der Vater war als kranker Mann aus dem Krieg zurückgekehrt, von dem er sich nie mehr erholte. So hatte sie ihre Lehrtätigkeit aufgeschoben, hatte die Großmutter, den Vater und noch eine Tante gepflegt. Als sie nach dem Tod der Großmutter in die Schule gehen wollte, hatte sie Erwin kennengelernt und bald danach Sophie geboren. So war es weitergegangen. Sie hatte Sophie großgezogen, zwischendurch ein paar Vertretungen gemacht und auch in einem Kindergarten ausgeholfen, denn der Vater brauchte sie und später ihre Mutter. Sophie hatte ihr die kleine Ilona überlassen und war froh gewesen, sich keine Sorgen machen zu müssen, hatte sie es als alleinerziehende Mutter und arbeitslose Schauspielerin schwer zurechtzukommen und auch Erwin hatte sie die letzten Jahre sehr gebraucht. So war statt der Lehrerin eine Hausfrau und Mutter, beziehungsweise eine Hilfspflegerin aus ihr geworden. Sie wollte nicht darüber klagen. Hatte sie es ja gern und freiwillig getan und war in diesen Rollen eine alte Frau geworden, die bald den achtzigsten Geburtstag feierte. Als sie Erwins Tod so einigermaßen verkraftet hatte, war sie beinah froh gewesen, daß Ilona noch unverheiratet war und ihre Hilfe nicht benötigte, so daß sie das Alleineleben genießen konnte und ihr gar nicht aufgefallen war, daß sie die Tochter und die Enkeltochter lange nicht gesehen hatte. Es war Zufall und keine böse Absicht. Sie hatten auch regelmäßig telefoniert und das würde sie jetzt auch tun, beschloß die alte Frau und erhob sich, um ins Wohnzimmer zu ihrem Schreibtisch zu gehen, um nach Sophies Telefonnummer zu suchen. Sie würde der Tochter den seltsamen Brief vorlesen und sich erkundigen, was sie davon halten sollte? Konnte ihr Vorhaben aber nicht ausführen, denn es läutete an ihrer Tür.

„Das wird wohl die Tamara sein, die mir einen Artikel bringen wollte!”, dachte sie.

„Wenn es nicht wieder so eine unangenehme Überraschung, wie dieser seltsame Geburtstagsbrief ist!” und begab sich zu der Tür, um vorsichtig aus dem Spion zu schielen, bevor sie öffnete. Es war keine solche. Sie konnte aufatmen. Draußen stand die Hausmeistertochter Tamara Rastovic, die Emma kannte, seit sie ihr als kleines Mädchen von der Hausmeisterfamilie, die aus Serbien stammte, stolz im Kinderwagen präsentiert worden war. Das war dreißig Jahre her, inzwischen war aus der jungen Frau, der es gelungen war, trotz Romaherkunft ein Medizinstudium zu absolvieren, eine Spitalsärztin geworden und da Tamara sie regelmäßig besuchte, war sie auch gar nicht so allein, obwohl Erwin und die wenigen Freundinnen gestorben waren und sie die Tochter und die Enkeltochter im letzten Jahr kaum gesehen hatte. Die schlanke Frau mit den kurzen dunklen Haaren und der modisch geschnittenen Viereckbrille, die ihrem Gesicht einen intellektuellen Ausdruck verlieh, die Jeans trug und eine schwarze Lederjacke, lächelte Emma ein wenig schüchtern an, als sie die Wohnung betrat.

„Guten Abend, Frau Huber! Habe ich Sie erschreckt? Sie schauen mich so furchtsam an! Ich hoffe, ich störe nicht, ich wollte Ihnen nur die Patientenzeitung mit dem Artikel über den wir das letzte Mal gesprochen haben, bringen. „Volkskrankheit Demenz”, was Sie ja nicht betrifft, da Sie fitter als manche unserer Patienten sind, die das Pensionsalter noch nicht erreicht haben und trotzdem schon über Gedächtnisstörungen klagen!”

Emma hatte der jungen Frau die Türe aufgemacht. Jetzt lächelte sie und schüttelte den Kopf.

„Komm herein, Tamara! Du störst natürlich nicht. Willst du eine Tasse Tee? Wenn du direkt von der Klinik kommst, wirst du eine Erfrischung brauchen. Du schaust sehr müde aus. Gab es Schwierigkeiten mit dem Chef? Ach ja, die Stelle, du siehst, daß ich doch vergeßlich bin! Du hast dich um einen Ausbildungsplatz beworben, der heute vergeben wurde. Darf man gratulieren? Hast du sie bekommen?”

Die junge Frau hatte die Jacke ausgezogen und auf den Garderobeständer gehängt. Dann schüttelte sie den Kopf und sah noch müder aus oder war es Zorn und Trauer, die ihren Blick beherrschten?

„Leider nicht, Frau Huber. Die Frau des Oberarztes wurde bevorzugt, mich hat der Chef auf den Februar vertröstet. Dann soll wieder etwas frei werden und ich werde berücksichtigt. Bis dahin darf ich warten und weiter meine Studiendaten eingeben und soll nicht traurig sein, hat der Chef salbungsvoll gemeint. „Sie machen ja die Telefonambulanz und es wird Ihnen alles für die Ausbildung angerechnet!”

Aber wissen Sie, Frau Huber, das hat er mir vor einem Jahr auch schon gesagt und jetzt bin ich bald dreißig, drei Jahre mit dem Studium fertig und habe mit der Ausbildung noch immer nicht richtig begonnen. Die Frau des Oberarztes ist jünger als ich und voriges Jahr wurde mir eine Nichte des Primars vorgezogen. Irgendwann werden sie in meinen Lebenslauf hineinsehen und „Sie sind schon so alt, Frau Kollegin, was haben Sie inzwischen gemacht?”, fragen und da ich Lücken aufzuweisen habe, nicht die Schnellste beim Studieren war und auch erst mit zwölf aufs Gymnasium gekommen bin, werde ich mit der Antwort Schwierigkeiten haben. Ich hoffe nur, ich fange nicht zu weinen an und heule Ihnen nicht den Küchentisch naß. Beim Chef und vor dem Oberarzt habe ich meine Wut verborgen und die Zähne zusammengebissen und gedacht, du darfst dich nicht unterkriegen lassen! Aber jetzt ist es mit meiner Beherrschung bald vorbei!„

Die alte Frau legte der jüngeren den Arm um die Schulter und drückte sie an sich.

„Komm in die Küche, Tamara. Dann stelle ich Wasser auf und mache uns eine feine Tasse Pfefferminztee. Der schmeckt dir doch immer. Er beruhigt und gibt Kraft zum Weiterkämpfen. Du hast schon richtig gesehen. Es gibt etwas, das mich verwirrt hat. Gut, daß du gekommen bist, da kann ich dich um Rat fragen. Ich wollte schon die Sophie anrufen. Aber weißt du, jetzt wirst du lachen und den Kopf schütteln. Seit die Sophie ein Handy hat, habe ich Schwierigkeiten mir ihre Nummer zu merken. Die alte habe ich im Kopf, bei der neuen muß ich immer erst in mein Notizbuch nachschauen gehen. - Aber nimm Platz, ich bringe gleich den Tee. Natürlich kannst du weinen, das darfst und sollst du auch! Weinen entspannt und wenn du das, was dich belastet, herausheulst, hast du wieder Platz im Kopf um deine Gedanken zu ordnen und kannst weiterplanen!”

Tamara Rastovics Lächeln verstärkte sich, dann setzte sie sich an den großen Holztisch, auf dem bei den bunten Prospekten das weiße Briefblatt lag.

„So haben Sie immer zu mir gesagt und es ist auch nicht das erste Mal, daß ich Ihnen den Küchentisch vollweine. Sie sind ja wie eine Großmutter zu mir und so habe ich mir eine gute Oma auch immer vorgestellt. Mit gütigem Blick und weißen Haaren, genau wie das Klischee aus den Märchenbüchern der kleinen Kinder. Meine Großmutter habe ich nicht gut gekannt. Ist sie doch mit einigen Tanten und Onkeln in der Barackensiedlung bei Belgrad geblieben und auch schon gestorben. Der Vater und die Mutter sind nach Wien gegangen, um ein besseres Leben zu haben. Dann haben sie, um mir dieses bieten zu können, soviel gearbeitet, daß ich praktisch in Ihrer Küche groß wurde und immer gekommen bin, um mich auszuweinen, wenn ich mit den Kindern in der Schule nicht zurechtgekommen bin, sie mich auslachten und „Was will die Zigeunerin im Gymnasium, geh doch zurück nach Belgrad!”, gerufen haben!”

„Ja, Tamara, du hattest es nicht leicht, ich weiß, aber du hast viel erreicht, sehr viel sogar, das sollst du nicht vergessen!”, sagte die alte Frau und stellte die Zuckerdose auf den Tisch. Den Brief schob sie mit den Prospekten an den Rand, um Platz für die Kanne und die Tassen zu schaffen.

„So haben Sie immer zu mir gesagt! Ich bedanke mich dafür und habe Ihren Rat auch oft gebraucht. Denn die Lehrerin in der Volksschule hat mich trotz der vielen Einser, die ich im Zeugnis hatte, für die Hauptschule vorgesehen. „Das andere überfordert sie!”, hat sie meinem Vater erklärt. Die Mutter hat sich damals noch nicht in die Schule getraut und hatte auch keine Zeit, weil sie den ganzen Tag wusch und putzte, um der Großmutter Geld zu schicken, damit sie in Belgrad die jüngeren Onkel und Tanten aufziehen konnte. So bin ich zwei Jahre in der Hauptschule gesessen. Es hat mir weh getan, wenn ich die Kinder, mit denen ich in der Volksschule war, ins Gymnasium gehen gesehen habe. Sie haben den Eltern dann zugeredet, mich aufs Gymnasium zu schicken. „Sie schafft es, das weiß ich!”, haben Sie immer so lieb gesagt. Und dann ist es fast nicht so geschehen, auch wenn ich gelernt und gelernt und meine Augen so angestrengt habe, daß ich mir eine Kurzsichtigkeit geholt habe. Der Schulstoff war es auch nicht. Da war ich bald Klassenbeste. Aber da haben die anderen „Streberin!” zu mir gesagt und mich ausgelacht, wenn ich mich vor Anstrengung so verkrampfte, daß ich schwitzte und die Blusen unter den Achseln patschnaß wurden. „Die Zigeunerin stinkt!”, haben sie gerufen und da habe ich Ihnen wieder den Küchentisch naßgeweint und nicht mehr in die Schule gehen wollen, bin auch ausgetreten und habe eine Lehre als Arzthelferin begonnen. Aber das war es auch nicht, denn da habe ich in der Nacht nicht schlafen können, weil ich immer denken mußte, daß ich so dumm bin und die Schule nicht schaffe. Dabei ist der Sohn von Dr. Wolfgruber ja in meine frühere Klasse gegangen und war in Mathematik viel schlechter als ich. Der ist mit seiner Ausbildung übrigens bald fertig und sicher schon Oberarzt, ehe ich Fachärztin bin. Aber Sie haben nicht locker gelassen und mir so gut zugeredet, daß ich es ein Jahr später noch einmal probiert habe und Ihre lieben Worte haben mich so selbstbewußt gemacht, daß es mit den Kindern der neuen Klasse keine Schwierigkeiten gab und ich sogar zwei Freundinnen hatte. Aber ich bin ein Jahr später fertig geworden und die Universität, wo ich mich als Hausmeisterkind unter lauter Sprößlingen aus Ärztedynastien durchsetzen mußte, hat mir auch sehr zugesetzt, weil ich glaubte, ich müßte die Beste sein, um es ihnen zu beweisen. Und so hat es länger gedauert, weil ich mich erst zu den Prüfungen traute, wenn ich ganz sicher war, alles zu wissen und jetzt bin ich drei Jahre fertig, hantle mich von einem Sechsmonatsvertrag zum nächsten, mache für den Oberarzt Studien und habe noch nicht viele Patienten gesehen. Aber vielen Dank, Frau Huber! Ohne Sie hätte ich es nicht geschafft! Ohne Sie hätte ich den Hauptschulabschluß, säße in einer Arztordination und würde dem Chef die Patienten einteilen. So habe ich Aussicht irgendwann einmal Internistin zu werden, denn soviel Geld einem praktischen Arzt die Ordination abzulösen, habe ich nicht und werde es auch nie besitzen und wenn sich die Mutter noch so sehr bemüht und Tag und Nacht schuftet, um mir einen guten Start zu bereiten. - Aber genug von mir. Jetzt habe ich genügend gejammert und es hat mir auch geholfen. Ich bin wieder ganz entspannt, mache weiter und gebe nicht auf. Vielen Dank für den Tee! Sie haben recht. Pfefferminze entspannt. Das hat mir früher immer sehr geholfen, wenn ich an Ihrem Tisch die Hausaufgaben geschrieben habe. Aber jetzt habe ich Zeit für Sie. Die Zeitschrift habe ich Ihnen auf das Vorzimmerkästchen gelegt. Erzählen Sie, was Sie berunruhigt! Ist es der Brief, der am Tisch liegt? Haben Sie schlechte Nachrichten von Ihren Verwandten? Geht es um Ihre Tochter oder Enkeltochter?”

„Ja und nein!”, antwortete Emma Huber, griff zu dem weißen Briefblatt, setzte die Brille wieder auf die Nase und las der jungen Ärztin vor. Tamara Rastovic hörte aufmerksam zu, dann nickte sie. „Ja, Frau Huber! Da gibt es einen Verrückten, der alten Leuten solche Briefe schickt. Im Fernsehen haben sie gestern davon berichtet. Ich bin bei den Eltern gewesen und die haben die Nachrichten gehört. Die Mutter hat sich auch sehr aufgeregt und erzählt, daß sie bei einem alten Herrn putzt, der so einen Brief bekommen hat. Aber Sie sollen nicht nervös werden. Das ist ein Verrückter, meint die Polizei. Sie können den Brief anzeigen. Regen Sie sich nicht auf und nehmen Sie den Inhalt nicht persönlich. Vielleicht wollen Sie sich die Nachrichten ansehen, damit Sie sich informieren können. Wenn Sie wollen, bleibe ich bei Ihnen und wir schauen sie gemeinsam an. Bei den Eltern bin ich schon gewesen, die Mutter ist auch noch nicht zu Haus. Jetzt wollte ich in meine Wohnung hinübergehen. Aber ich leiste Ihnen gerne Gesellschaft, denn ich wäre in der Wohnung ja allein. Bin ich doch eine schlechte Romni, die mit fast dreißig Jahren weder einen Mann noch Kinder hat!”, sagte Tamara Rastovic und lächelte ein wenig mehr. Emma Huber erwiderte ihren Blick. „Vielen Dank!”, sagte sie und legte den Brief auf den Tisch zurück.

„Ich rege mich nicht auf, wenn ich auch ein wenig beunruhigt war und mit dem Brief nichts anfangen konnte. Gehen wir ins Wohnzimmer und drehen den Apparat auf!”


Alfred Nagl
Last modified: 2008-05-18 22:20:14