Mimis Bücher

Ein Bestsellerautor, der des Plagiats verdächtigt wird, eine Schriftstellerin mit Down Syndrom, eine frühpensionierte Lehrerin als Literaturkennerin, das sind die Hauptpersonen in „Mimis Bücher’.

Um sie herum erzählt Eva Jancak über die Mechanismen des Literaturbetriebs, über das Leben selbstbewusster Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, über biografische Vorteile und Mühsale. Unprätentiös wie immer bringt die Autorin ihre Kritik an gesellschaftlichen Zuständen an, nicht aufdringlich, nicht mit dem moralischen Zeigefinger und doch zum Nachdenken anregend. Mit der im Mittelpunkt der Handlung stehenden Figur der Hermine Berger, von der Mutter liebevoll Bella genannt, zeigt Eva Jancak die vielen Facetten vom und im Leben von Menschen mit Down Syndrom. Und so ist die Erzählung auch ein Plädoyer für eine vielfältig bunte Gesellschaft, die heute gerne als inklusive Gesellschaft beschrieben wird.

Vom überraschenden Schluss aus gesehen kann man sagen, Mimis Bücher ist ein wunderbares modernes Märchen mit viel realem Hintergrund.

Otto Lambauer

Zu der vorliegenden Erzählung wurde ich sowohl durch meine Tätigkeit als Jurymitglied beim Literaturpreis „Ohrenschmaus-Literatur von und mit Menschen mit Behinderung”, als auch durch die im Februar 2010 geführte Plagiatsdiskussion um die Bücher von Jens Lindner und Helene Hegemann angeregt.

Die Personen und die Handlung sind erfunden.

1

Johannes Staudinger zögerte, als sich sein Finger auf die Namensleiste der Gegensprechanlage legte. Natürlich tat er das. War das, was er zu tun beabsichtigte, ja ungewöhnlich, gefährlich sogar. Auf jeden Fall konnte es seiner Reputation schaden, wenn ihn die Zeitungsschreiber dabei erwischten. War er doch ein bekannter Mann, so daß er ins Schwitzen kam, wenn er sich vorstellte, übermorgen im „Standard” oder in den Gratiszeitungen „Umstrittener Autor angeschlagen! Die Plagiatsdiskussion anläßlich der Nominierung zum deutschen Buchpreis hat den Romancier Johannes Staudinger zum Seelendoktor gebracht!”, zu lesen. Das brauchte er nicht. Und es würde auch nicht geschehen. Hatte er doch, bevor er sich bei der Psychotherapeutin zu einem Erstgespräch angemeldet hatte, Vorkehrungen getroffen. Da war er ihrer Schweigepflicht zuvorgekommen und seiner Frisur einen anderen Schwung versetzt. Die Krankenkassenbrille, die seit Jahren unbeachtet im Nachtkästchen verstaubte und seinem Profil einen seltsamen Ausdruck verlieh, aufgesetzt und aus dem Kleiderkasten ein auffälliges Jacket mit einem bräunlich roten Karomuster gezogen, das er nie getragen hatte. Keine Ahnung, wie das gute Stück dorthin gekommen war? Jetzt hatte er es an und die Namensleiste gedrückt. Die Tür öffnete sich sogleich und aus der Praxis stürzte eine junge Frau, die schräge Augen, sowie ein paar Kilo zuviel auf den Hüften hatte und genauso bunt wie er gekleidet war. Ein Hinweis, den Entschluß rückgängig zu machen? Die junge Frau schien an einem Down-Syndrom zu leiden. Vielleicht war sie auch kurzsichtig. Denn sie achtete nicht auf den Weg und wäre fast in ihn hineingerannt, wenn er nicht rechtzeitig ausgewichen wäre. Ein weiterer Fingerzeig des Schicksals, sein Vorhaben aufzugeben? Dazu war es allerdings zu spät, denn die Praxistüre war geöffnet, in ihr stand eine schlanke Frau mittleren Alters in unauffälligen Einheitsjeans und rosa Wollpullover, die ihn aufmerksam musterte.

„Herr Gerlach?”, begrüßte sie ihn freundlich, fast hätte er den Kopf geschüttelt.

„Aufpassen, lieber Hannes und nicht ins Fettnäpfchen treten! Du warst ja vorsichtig und hast zur Tarnung einen falschen Namen gewählt!”

So nickte er in letzter Sekunde und sah die Therapeutin ebenfalls sehr aufmerksam an.

„Sie sind Frau Dr. Horvath? Ich habe mich zu einem unverbindlichen Erstgespräch angemeldet!”

Sie bat weiterzukommen und erkundigte sich, als er in der Polstergruppe des gemütlichen Sprechzimmers, in dem es außer einem weißen Ikea-Regal mit jeder Art psychotherapeutischer Fachliteratur, einen uralten Philodendron gab, der das kleine Zimmer in seiner grünen Fülle beherrschte, Platz genommen hatte, um was es ginge? Er habe am Telefon etwas von Burn-Out und Belastungssymptomen angegeben, erinnerte sie ihn für den Fall, daß er sein Motiv vergessen hätte. Was gut war, wollte er doch bei dem bleiben, was er sich zu sagen vorgenommen hatte, um sich nicht übermorgen in der „Kronenzeitung” zu finden. Andererseits hatte ihm die Schlammschlacht der letzten Tage doch so zugesetzt, daß er weder schlafen noch schreiben konnte, so daß ihm seine etwas esoterisch angehauchte Kollegin Verena den Besuch bei einer Psychotherapeutin angeraten hatte.

„Das hilft einen Halt zu finden, die Gedanken und Gefühle einzuordnen!”, hatte sie voll Zuversicht versprochen. So nickte er und sah die Therapeutin mit den kurzgeschnittenen braunen Haaren in dem blau-rosafarbigen Outfit aufmerksam an. Kurzsichtig schien sie nicht zu sein, denn sie trug keine Brille und er hatte die Tatsache, daß er vor sechs Wochen mit seinem letzten Roman überraschend auf die Longlist und vor zwei auf die Shortlist des deutschen Buchpreises gekommen war, vor Roswitha Horvath als Erschöpfungsproblematik ausgegeben. Die nickte verständnisvoll und wollte eine Erörterung der Symptome. Die würde er nicht liefern. Hans Gerlach war beruflich überlastet und so angespannt, daß er in den letzten Tagen weder schlafen, noch sich konzentrieren konnte, weshalb ihn eine Bekannte herempfohlen hatte. Das reichte, während der Autor Johannes Staudinger, der vor drei Jahren den „Wildganspreis” bekommen hatte und langsam nicht nur mehr als Geheimtip der Germanistikstudenten galt, mit seinem neunten Roman auf der Shortlist gelandet war. Plötzlich hatten sich die Medien für ihn zu interessieren begonnen und sein Handy hatte viele Anfragen empfangen. Jeder wollte ein Interview, so daß er für die Organisation seines Terminplans eine Sekretärin gebraucht hätte. Aber das hatte ihn nicht erschöpft, obwohl er mit seinem zehnten Roman, mit dem er schon beschäftigt war, nicht weiterkam. Das war kein Problem, denn daß ein Erfolg, der schöpferischen Kreativität zu Gute kommt, hatte er in den immerhin schon fünfunddreißig Jahren seiner literarischen Karriere mehrmals erfahren. Das Problem war erst ein paar Stunden, bevor er auf die kurze Liste kam und sein Verleger angerufen hatte, um ihm zu versichern, daß er Aussicht hätte, es in die Endrunde zu schaffen, aufgetaucht. Da hatte er nämlich ein Mail mit der Behauptung bekommen, daß er zwei Kapitel aus dem Roman eines unbekannten Kollegen, der sogar in einem Selbstzahlverlag erschienen war, abgekupfert haben sollte.

„Lächerlich!”, hatte er gedacht und es dafür gehalten, denn er kannte den Kollegen nicht und interessierte sich nicht für Selbstzahlverlage. Es könnte nur umgekehrt gewesen sein, hatte er dem Schreiber geantwortet. Der schien sein Mail aber an die gesamte Presse verschickt zu haben und die war darauf angesprungen. Hatte die große Sensation vermutet und sein Verleger hatte „Halten Sie durch, so bekommen Sie den Preis! Das ist ja wunderbar! Vorher hatten Sie nur eine Außenseiterchance. Jetzt werden wir den Medienhype nützen und die Auflage erhöhen. Aber sagen Sie mir im Vertrauen, haben Sie von diesem Peter Wohlein nicht vielleicht doch ein bißchen abgeschrieben?”, im halben Scherz hinzugefügt und die Presse und die Journalisten schienen das auch zu glauben und setzten ihn in diesem Sinn zu, so daß er in den letzten zwei Wochen keine Ruhe gehabt und keine einzige Zeile geschrieben hatte. Nicht geschlafen, nur gezittert, sogar an einen Herzinfarkt gedacht. Das erzählte er der braunen Roswitha mit dem grünen Daumen natürlich nicht. Nur von einem beruflichen Aufstieg und den Neidern, die sich gemeldet hatten und den daraufhin entstandenen Alpträumen, Schlaflosigkeit und Schweißausbrüchen. Sie nickte verständnisvoll, riet zur Verhaltenstherapie und dazu, sie in Hinkunft jede Woche eine Stunde zu beehren, um sich zu entspannen und Strategien zu erarbeiten, mit denen das Problem lösbar war. Das hatte ihn Verena, die eine ähnliche Erfahrung gemacht und bei dieser Roswitha gewesen war, auch geraten. Er wußte aber nicht, ob er es wollte und sagte das auch der Therapeutin, die neuerlich voll Verständnis nickte.

„Überlegen Sie es sich, Herr Gerlach! Ich würde es empfehlen, manchmal braucht es einen Anstoß, weil man sich allein im Kreis dreht!” und erkundigte sich nach seiner Krankenkassa, bevor sie siebzig Euro von ihm kassierte. Er schüttelte den Kopf, betonte ihre Hilfe privat in Anspruch zu nehmen, was sie zu freuen schien. Denn sie erzählte erleichtert, daß ihre Kassenplätze besetzt wären, weil seit der Einführung des Vereinsvertrags alle einen ihrer fünf Plätze wollten und sie ihn derzeit nur auf Zuschuß behandeln könne. Sie würde ihn aber von der Möglichkeit die Honoranote bei der Krankenkasse einzureichen, gern informieren. Er schüttelte den Kopf, schob ihr einen Hunderter hin, steckte die zurückerhaltenen Zehner in die Jackentasche und verließ die Praxis. Das unverbindliche Beratungsgespräch hatte ihn doch ein wenig mitgenommen. So blieb er vor dem Blumengeschäft an der Ecke stehen, um auszuatmen und sich zu sammeln. War aber nicht erfolgreich damit, da sich die Glastür öffnete und die behinderte junge Frau mit drei blaßroten Rosen herausstürmte. Bevor sie in Gefahr war, wieder in ihn hineinzurennen, bremste sie ab und sprach ihn an. „Sie waren bei der Therapeutin, nicht wahr? Mich hat die Kathi hingeschickt, weil ich mit dem „Zungenkuß” Schwierigkeiten hab!”, erzählte sie vertraulich und sah ihn so bestimmt an, als würde er wissen, was unter dem „Zungenkuß” zu verstehen und wer die Kathi war? Als er den Kopf schüttelte, trat sie an seine Seite und schickte sich an, mit ihm die Margaretenstraße weiterzugehen. Dann schien sie seine Verständnislosigkeit zu bemerken, denn sie erklärte „Die Kathi ist meine Betreuerin in der Kreativwerkstatt und ich bin die Mimi oder Bella, wie mich die Mama nennt. Ich bin Schriftstellerin!”, fügte sie hinzu. Als er in ihre schrägen Augen sah und überlegte, ob es möglich war, daß sie ihn erkannt hatte und provozieren wollte, griff sie in ihre große Umhängetasche und hielt ihm ein dünnes, sicher auch in einem Selbstzahlverlag erschienenes Buch entgegen.

„Das hätten Sie mir nicht zugetraut, nicht wahr? Ich hab nämlich ein Chromosom zuviel, aber sonst bin ich normal!”, behauptete sie fröhlich und stellte sich als Hermine Berger vor.

„Ich heiß Mimi Berger oder eigentlich Hermine nach meiner Großmama. Aber die Mama hat mich Bella genannt, was auf Italienisch die Schöne bedeutet, als ihr die Ärzte im Krankenhaus das mit dem Chromosom erklärten!”, plauderte sie vertraulich weiter und ging an seiner Seite die Margaretenstraße entlang.

„Die Kreativwerkstatt befindet sich in der Schönbrunnerstraße!”, erzählte sie dabei, als würde ihr einfallen, daß er sich über ihre Vertraulichkeit wundern könnte.

„Die Rosen hab ich gekauft, um mich zu trösten, weil mir das mit dem „Zungenkuß” passiert ist. Das hat mir die Therapeutin geraten!”, fügte sie hinzu und sah ihn so ernsthaft an, daß er nicht umhin kam, sich „Was ist Ihnen mit dem „Zungenkuß” passiert?”, zu erkundigen, obwohl es ihn nicht interessierte.

„Der „Zungenkuß” ist ein Literaturpreis für Menschen mit Lernschwierigkeiten”, erklärte sie bereitwillig.

„Wir haben in der Werkstatt darüber gesprochen und da ich schon drei Bücher hab, weil ich in der Integrationklasse gut schreiben lernte und das auch gern tu, hab ich einen Text über das Leben mit dem Chromosom zuviel und die Schwierigkeiten, die man damit hat, geschrieben. Da hat mir die Kathi einen Zeitungsartikel gezeigt und erklärt, daß sie bei der Pressekonferenz gesagt haben, daß ich die Siegerin bin. Ich hab mich gefreut, die Mama angerufen und meinen Bruder Günther, der Medizin studiert und ein berühmter Arzt werden wird. Dann hat die Kathi mich zu sich geholt und gesagt, daß das ein Mißverständnis gewesen sei und die Barbara den Preis gewonnen hat. Da bin ich, wie ich das manchmal tu, wütend geworden und hab den großen Blumenstock umgestoßen, so daß mich die Kathi zur Therapeutin geschickt hat, damit ich über meine Wut reden kann und die hat mir geraten, Blumen zu kaufen, weil sie trösten. Jetzt hab ich Sie kennengelernt und bin nicht mehr wütend. Waren Sie auch bei der Therapeutin, weil die Zeitung etwas Falsches über Sie geschrieben hat?”, erkundigte sie sich treuherzig. Er zuckte noch einmal zusammen und wußte nicht, was er antworten sollte?

„Sie schauen aus, als ob Sie traurig wären!”, antwortete sie statt ihm und drückte ihm eine ihrer Rosen in die Hand.

„Die ist für Sie, damit Sie wieder fröhlich werden!”, sagte sie und deutete auf die Quergasse.

„Da muß ich hinunter, um in die Werkstatt zu gelangen, wo die Kathi auf mich wartet. Ich hab mich gefreut, Sie kennenzulernen, denn Sie haben gute Augen!”, fügte sie hinzu und lief mit ihren zwei verbliebenen Rosen davon.


Alfred Nagl