Mathilde im Coronaland

Wie schreibt man einen dystopischen Roman in Corona-Zeiten, in dem es plötzlich Maskenpflicht, eine ein- oder zwei Meter Abstandsregel, sowie Diskussionen über das Freitesten und eine mögliche Impfpflicht gibt?

Dieser Frage bin ich, nachdem ich schon zwei Corona-Bücher, nämlich „Kein Frühlingserwachen mehr?” und „Ein braunrot kariertes Notizbuch” geschrieben habe, in dem ich die Ereignisse vom Frühling, beziehungsweise Sommer 2020 schildere, nachgegangen und sie hat mich zu der Maskenverweigerin Mathilde, die sich ihre Einkäufe von ihrer Nachbarin Rosa Binder besorgen läßt, gebracht.

Die, eine gerade mit ihrem Studium fertiggewordene Germanistin, lernt, während sie eine Praktikumsstelle sucht und schließlich Kontakttracerin wird, den Kanzleramtsmitarbeiter Benedikt Thalhammer im Rathauspark kennen, während ihr Geschwister Mar, eigentlich Maria, die Aufnahmsprüfung an der „Angewandten” besteht.

Mathilde durchlebt das verflixte Corona-Jahr in dem sie im Tagebuch ihrer Großmutter Barbara liest, die vor mehr als hundert Jahren an der spanischen Gruppe gestorben ist. Sie hat einige seltsame Begegnungen mit ihrer 1946 verstorbenen Großtante Aloisia und schreibt, bevor sie in eine NI-Wohnung zieht, einen Brief an ihre Enkeltochter Jasminka, die sie nie gesehen hat.

31. Dezember 2019 - Mathilde

Die Nase rann entsetzlich, die Augen waren rot verschwollen und der Papierkorb mit vielen Taschentüchern zugemüllt.

„Scheiße!”, dachte Mathilde Scharinger und sah auf die Uhr. Halb zehn. Um zehn sollte sie sich mit Gisela beim Schottentor treffen, um mit ihr den Silvesterpfad zu begehen. Sie sollte die Freundin, die, wie sie Single, beziehungsweise, verwitwet war, anrufen, sowie ihre Tochter Franzi, die in Graz lebte und wenn sie sich nicht irrte, gerade auf den Weg zur Entbindungsstation war, um das erste Enkelkind auf die Welt zu bringen. Falsch, Franzi und Sebastian hatten eine Hausgeburt geplant. Also war wahrscheinlich die Hebamme im Anmarsch und fluchte über das verpasste Silvesterfest. Mathilde hatte vor, in den nächsten Tagen nach Graz zu fahren, um das Enkelkind zu begrüßen, aber wie sollte sie das mit rinnender Nase und dem Fieber, das sie höchstwahrscheinlich hatte? Da war es besser sich zu Hause auszukurieren. Die Geburt der Enkeltochter ließ sich auch später feiern. Die Kleine lief ihr nicht davon und Franzi würde auch raten vorsichtig zu sein.

„Denn eigentlich will ich nicht von dir angesteckt werden und die Krankheit an das Baby weitergeben! Trink lieber Tee mit Zitronensaft und bleib zu Haus!”, würde sie empfehlen. Der stand schon vor ihr, sie im Hausanzug in der Küche und sollte sich eigentlich umziehen, um nicht zu spät zum Schottentor zu kommen und Gisi nicht verärgern. Aber die sollte sie auch nicht anstecken und außerdem hinderte sie der nächste Hustenanfall ihren Vorsatz auszuführen.

„Verdammt, verdammt!”

Nach dem Taschentuch greifen, einen Schluck Tee trinken und nach dem Handy greifen, um sich bei Gisi zu entschuldigen.

„Oh mei, du Arme!”, sagte die und schien gar nicht sehr enttäuscht. Erzählte sie ihr doch von ihrem Cousin Georg, der überraschend auf Besuch gekommen war und den Abend mit ihr verbringen wollte.

„Ich wollte ohnehin schon anrufen, um dich vorzubereiten, daß Georg mitkommt! Jetzt zieh ich halt alleine mit ihm los und du kurierst dich aus, damit du gesund ins neue Jahr starten und dein Enkelkind besuchen kannst! Hast du schon von dem neuen Virus gehört, das den Chinesen aus dem Labor entkommen ist und die Menschen wie die Fliegen hinwegraffen soll? Hoffentlich hat dich das nicht erwischt! Aber nein, das war nur ein Scherz! Das grassiert ja in China! Nichts für ungut! Kurier dich aus! Ich wünsch dir alles Gute, stoße mit Zitronentee auf das neue Jahr an und ich melde mich wieder, wenn ich meinen Neujahrskater überstanden habe!”, sagte die Freundin und legte auf. Mathilde beschloß ihren Rat zu folgen und sich auf die Couch zu legen, um ein wenig vor sich hinzuschmökern, bevor sie um Mitternacht mit einem Glas Sekt Franzi und Sebastian anrufen und sich erkundigen würde, ob die kleine Jasminka ein Neujahrsbaby geworden war? Den Fernseher aufdrehen, um sich bei der Silvestershow statt auf dem Silvesterpfad zu unterhalten und richtig, von dem Virus hatte sie schon gehört, beziehungsweise berichtete die Fensehsprecherin gerade von einer neuen Lungenkrankheit, die in China die Menschen dahinraffte, so daß schon ganze Viertel abgeriegelt worden waren und man nur nach strengen Regeln das Haus verlassen durfte, um sich nicht anzustecken!

„Nur mit Maske, weil das Virus so gefährlich wie die spanische Grippe ist, die uns vor hundert Jahren überfallen hat!”, sagte sie und hob ihr Glas, um von den Silvesterfeiern zu berichten, die überall auf der Welt stattfanden.

„Bleiben Sie gesund und kommen Sie gut ins neue Jahr!”, wünschte sie. Mathilde griff neuerlich zum Tee und stand auf, denn ihr war das Tagebuch der Großmutter eingefallen, das die 1919 für ihre vor einem halben Jahr geborenen Tochter Hilde, Mathildes Mutter, geschrieben hatte, bevor die spanische Grippe sie im Mai 1919 hinweggerafft und die sechs Monate alte Hildegard mutterlos zurückgelassen hatte. Mathilde hatte das Buch im Schlafzimmer ihrer Mutter, die vor zwei Jahren verstorben war, gefunden, war aber noch nicht zum Lesen gekommen. Eine gute Idee, sich damit zu beschäftigen, während Gisela mit ihrem Cousin auf dem Silvesterpfad tanzte und ihr Sebastian vorhin mitgeteilt hatte, daß die Hebamme schon gekommen war.

„Du wird Oma, Schwiegermutter! Freust du dich auf die kleine Jasminka? Die Franzi hat schon Wehen! Ich rufe wieder an, wenn die Kleine geboren ist und damit ich es nicht vergesse, wünsche ich dir schon jetzt ein schönes neues Jahr und alles Gute für deinen Schnupfen, der wahrscheinlich nicht von diesem Virus kommt, von dem sie in den Nachrichten berichteten!”