Heimsuchung oder halb eins

Die vorliegende Erzählung ist im Rahmen des Nationalen Writing Months 2009 entstanden, bei dem 97.766 Autoren versuchten, innerhalb des Monats November einen Roman von mindestens 50.000 Worten zu verfassen.

„Heimsuchung oder halb eins”, bezieht sich darauf und ist eine Erzählung über das Schreiben, Blogs, den Nobelpreis und aufstiegsorientierte Jung- und Erfolgsautorinnen geworden.

Ausgangslage ist der grippale Infekt der Protagonistin Hanna Held, die während ihre Nachbarin Ayten Akmaz zum ersten Mal nach zwanzig Jahren zum Begräbnis ihres Großvaters nach Istanbul fliegt, sich in eine freiwillige Quarantäne begibt und hier in Kontakt mit ihren Blog-Bekanntschaften kommt ...

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In den Nachrichten gab es die üblichen Horrormeldungen, die Besetzung des Uni-Campus durch eine engagierte Studentenschaft, die mit den derzeit herrschenden Zuständen, der Überfüllung der Hörsäle, der drohenden Studiengebühr und den Zulassungsbeschränkungen, die es gab, seit durch die europäische Union jeder EU- Bürger angeblich in Wien studieren durfte, nicht zufrieden war und mit dem für sie zuständigen Minister sprechen wollte, der das bisher verweigert hatte. Deshalb gab es seit einigen Tagen Krieg im Universitätsgebäude.

„Der Campus brennt!”, verlautete die blonde Nachrichtensprecherin mit dem schicken Strickensemble, eingekleidet von Escada, konnte man auf dem Bildschirm lesen.

„Wir danken unseren Sponsoren für die freundliche Unterstützung!”

Die Sprecherin schaute ein wenig pikiert und schien an die Zeiten zu denken, als sie mit dem selbstverständlichen Recht für einen freien Zugang auf die Universität ihr Politik- oder anderwertiges, inzwischen als Orchideenfach beschimpftes Studium absolviert hatte und ich spürte meine Nase rinnen.

„Verdammt!”, fluchte ich vor mich hin und suchte nach einem Taschentuch, denn den Bericht über das H1N1 Virus, besser bekannt als Schweinegrippe, hatte es schon gegeben und dieses Virus, das vor ein paar Monaten in Mexiko aufgetreten war, schien eine allgemeine Massenhysterie auszulösen und da hatte die hochnasige Moderatorin ihren Bericht von der einunddreißigjährigen Schwangeren verlesen, die seit zwei Tagen mit besagtem Virus auf der Intensivstation lag und mit einem Arzt gesprochen, der sehr besorgt dreingeschaut hatte und zur allgemeinen Impfung riet, wenn diese demnächst für die Risikopatienten freigegeben wurde. Bisher wurde nur das medizinische Personal geschützt. Der Obermedizinalrat riet das aber allen an und die Fernsehsprecherin hatte von der Angst und der Quarantäne gesprochen, die inzwischen in der Ukraine herrschte, seit fünfunddreißig Personen an Atemwegserkrankungen verstorben waren. Seither waren dort die Schulen und die Kinos geschlossen und die anschließende Filmeinspielung hatte gestresst wirkende Menschen mit Mundschutz gezeigt, die verunsichert durch die Geschäftsstraßen hetzten.

„Ich rate zur Vorsicht, passen Sie auf sich auf, damit Sie sich nicht erkälten!”, hatte die Nachrichtensprecherin empfohlen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf den besetzten Uni-Campus gerichtet hatte und einen Hörsaal zeigte, in dem eine engagierte Studentengruppe Schlafsack neben Schlafsack reihte, eine sogenannte Volksküche errichtet hatte und energisch ihre Transparente schwang.

„Wir bleiben bis der Minister sich herabläßt mit uns zu sprechen!”, rief eine junge Frau mit dunklen Rastalocken und einer runden Brille mit unverkennbar norddeutschem Akzent und wurde von den sie umgebenden Kommilitonen wortreich unterstützt. In diesem Moment war mir meine Nase auf und mir eingefallen, daß sie schon seit dem Morgen verdächtig rann, so daß ich eine halbe Großpackung Taschentücher verbraucht hatte, die sich munter im Papierkorb neben meinem Schreibtisch sammelten. Die Nase hatte einen roten Schneuzrand abbekommen, der Hals kratzte, war wund und rauh.

„Verdammt, verdammt!”, da schien ich mir eine Erkältung zugezogen zu haben, wie zwar in den plötzlich einbrechenden herbstlichen Temperaturen verständlich und es im Vorjahr auch nicht anders gewesen war. Aber da hatte man von einer Schweinegrippe noch nichts gewußt und daher nicht besorgt geschaut, sondern zu Vitamin C, heißen Bädern und ebensolchem Tee mit Zitronensaft geraten.

„Ein paar Tage Bettruhe und es wird schon wieder, in einer Woche ist es vorbei!”, hatte man gesagt und nicht einmal die Ärzte waren besorgt gewesen. Das war vorüber, hörte man doch seit Wochen von der neuen Seuche. Und wenn die meisten sie auch für harmlos hielten und die bisher bekannten Fälle so verlaufen waren, hatte mir meine Nachbarin Ayten Akmaz doch von einer Kollegin erzählt, die die Symptome einer Angina hatte und auf Anraten ihrer Chefin eine Spitalsambulanz aufsuchte. Das was sie dort erlebte und die Art mit der die besorgten Ärzte mit Mundschutz und Drohgebärden die Entsetzte behandelt hatten, hatte sie in einen Schock versetzt, der auch Ayten, die am Amt für Jugend und Familie als Sozialarbeiterin beschäftigt war, mitgenommen hatte. Nachher war es eine gewöhnliche Angina gewesen, wie sie auch auf dem Informationsblatt der Ärztekammer mit allen geschilderten Symptomen angeführt stand. Die Sonderbehandlung hatte die Kollegin aber so erschreckt, daß sie einen Psychotherapeuten gebraucht hatte.

„Posttraumatische Belastungsstörung, du weißt schon, wie diese Modediagnose lautet!”, hatte Ayten gescherzt und war zum Herd gegangen, um das türkische Kaffeekännchen noch einmal mit Wasser zu füllen. Besorgt hatte sie aber trotzdem dreingeschaut und den Kopf geschüttelt.

„Jetzt weiß ich, daß ich nicht zum Arzt gehe, wenn die Nase rinnt!”, hatte sie gemurmelt und das matt glänzende Kupferkännchen energisch auf die Kochplatte gestellt.

„Dieses Tamtam tue ich mir nicht an, aber wenn es die Klara erwischt hätte, hätten sie uns zwangsgeimpft, in Quarantäne gesteckt und die Zeitungen hätten über uns berichtet. Dann hättest du lesen können, daß sich Klara T. aus dem schönen Vorarlberg mit ziemlicher Sicherheit von ihrer türkischstämmigen Kollegin Ayten A. den Virus geholt hat und die freiheitliche Partei hätte eine Sondersitzung mit der Forderung ins Parlament einberufen, daß endlich Schluß sein müsse mit den Türkinnen in den Sozial- und Jugendämtern, weil die die Viren von ihren Heimaturlauben nach Österreich bringen und ein echter Österreicher von keiner türkischen Sozialarbeiterin beraten werden will!”, hatte sie gesagt und eine Schachtel Lokum auf den Tisch gestellt.

„Meine Lieblingssorte mit Nüssen und Mandeln! Gekauft am Naschmarkt und nicht in einem Istanbuler Basar, denn dort bin ich schon zwanzig Jahre nicht gewesen und vorher auch nur bei den wenigen Heimaturlauben, die ich als Kind erlebte. Bin ich ja, auch wenn mir das niemand glauben will, in Wien geboren und das Geld für Heimaturlaube war immer knapp. Nachdem es die Mama endlich geschafft hat, sich von meinem gewalttätigen Vater zu trennen, war es überhaupt unmöglich. Denn die Mama hätte sich das schon wegen ihrem Vater und den Brüdern nicht getraut, die noch in der Türkei leben, das darf eine türkische Frau ja nicht. Egal, wie sich der liebe Gatte aufführt. So ist es der Mama schwer gefallen, obwohl die blauen Flecken und die Blutergüsse nicht zu übersehen waren und ihr die Ärzte die Geschichte mit der Stiege, über die sie schon wieder einmal gestolpert war, nicht mehr glaubten. Damals hätten sie so reagieren müssen wie bei der Klara, aber sie haben nur den Kopf über die rückständigen Verhältnisse geschüttelt und die diversen Treppenstürze in ihre Aufnahmebögen notiert. Beser Aslan, die Feministin vom Zuwandererfond, die das schon zwanzig Jahre früher in Istanbul erlebte und nur zufällig mit unserem Fall in Berührung gekommen ist, hat sich die Seele aus dem Leib geredet, um die Mutter zu überzeugen, daß sie sich trennen muß. Schließlich ist es ihr mit sanfter Gewalt gelungen. Der Mutter hat es gut getan. Wahrscheinlich würde sie sonst nicht mehr leben und mir hat es auch genützt. Hat Beser mich zuerst auf das Gymnasium und dann auf die Sozialakademie gebracht. Dort war man über die Maturantin mit den Türkischkenntnissen erfreut, hat über meine dunklen Haare gnädig hinweggesehen und mich aus den fünfhundert Bewerbern bevorzugt aufgenommen, weil ich bei den Hausbesuchen mit den Klienten Klartext reden kann. Die Aufnahmekommission war fortschrittlich, wahrscheinlich hat Beser sie beraten. Die Kollegen, mit denen ich im Amt zu tun habe, sind das immer noch nicht so, auch wenn sie mir das nicht sagen. Da tun sie immer freundlich und brauchen mich zum Übersetzen. Hinter meinem Rücken habe ich aber schon einiges gehört, was wütend machen könnte!”, hatte sie geseufzt und Kaffee eingeschenkt. Ayten würde vom Besuch beim Hausarzt abraten, das war ziemlich sicher. Da brauchte ich nicht nachzufragen, obwohl ich sie morgen sehen würde, da wir uns die Bauchtänzerin ansehen wollten, die im Interkulttheater gerade auftrat. Ich hätte aber auch so nicht daran gedacht, Dr. Franzen, der in der Straße in der ich wohnte, seine Praxis hatte, aufzusuchen. Denn das hatte ich bei den grippalen Infekten, die mich im Vorjahr plagten, auch nicht getan. Es wäre auch nicht ratsam, denn bis mich Dr. Franzen mit Mundschutz behandeln und entsetzt auf die Isolierstation schicken würde, wäre ich schon eine Stunde in seinem überfüllten Wartezimmer gesessen und hätte meine Viren und Bazillen munter an die anderen Patienten abgegeben, die mich ihrerseits mit ihren Krankheitskeimen überschüttet hätten. So also nicht, wie aber dann? Vielleicht half es, den Fernsehapparat auszuschalten. Die Nachrichten waren ohnehin vorbei und Werbung interessierte mich nicht sonderlich und ich könnte mir stattdessen eine Kanne Tee aufbrühen. Mit Zitronensaft und einem Löffel Honig. Das hatte meine Großmutter mir geraten, als von Schweinegrippe noch keine Rede war und die spanische Grippe war etwas, an der zwar ihr Großvater kurz nach dem ersten Weltkrieg gestorben war, aber das war lang vorbei und sie konnte sich nicht mehr so genau daran erinnern. „Russischer Tee mit viel Zitronensaft wirkt wahre Wunder!”, hatte Großmutter Johanna geraten, bevor sie selbst gestorben war. Die Grippe war es nicht gewesen, sondern eine ganz normale Altersschwäche, die die Achtundachtzigjährige vor zwei Jahren dahingerafft hatte. Aber vielleicht hatte sie sich diese zugezogen, weil vorher ein Grippevirus ihre Abwehrkräfte geschwächt hatte, was weiß man schon? Von einem H1N1 Virus war damals keine Rede und so hatte ich mich nicht gesorgt. Jetzt tat ich es, rann doch die Nase und im Hals kratzte es verdächtig. Also die Teekanne mit Wasser füllen. Zitronen und Orangen lagen im Korb, die ich besorgt hatte, als ich gestern über den Naschmarkt gegangen war. Vielleicht hatte mich der Türkenbub angesteckt. Er hatte jedenfalls neugierig auf meine Oberweite geschielt und sich dabei so verschaut, daß er mir zwei faule Orangen in den Sack gesteckt hatte.

„Stop, halt, keine voreiligen Gerüchte verbreiten, liebe Hanna, bleib korrekt und sachlich, auch in dieser Situation, die eigentlich nicht besonders ist, denn einen grippalen Infekt hast du auch früher gehabt und dich nicht darüber aufgeregt, also wirst du es auch jetzt nicht tun, sondern Tee trinken und dich in die Badewanne legen. Das hilft und ist ein Wundermittel, hat Großmutter Johanna geraten und sonst kannst du ja vorsichtig sein!”

Das kann nicht schaden und da ich freiberuflich tätig bin, muß ich nicht unbedingt aus dem Haus, um so mehr, da mein Eiskasten gefüllt ist, das Tiefkühlfach ist es auch. Das reicht locker für eine Woche und ich brauche nicht einkaufen gehen, um im Supermarkt die überforderte Kassierin anzustecken. Nichts als die Verabredung mit Ayten steht auf meinem Terminkalender und die kann ich absagen, wenn ich sie nicht mit meinen Viren belästigen will. Mich in eine Art fürsorgliche Quarantäne begeben. Dann müssen es nicht die Mediziner machen und ich brauche nicht mit Mundschutz durch die Gegend rennen, was ohne Zweifel ein wenig lächerlich wirkt, dachte ich und griff auf meine Stirn, um zu ertasten, ob ich Fieber hätte. Jetzt hatte mich die Fernsehsprecherin mit ihrem süffisanten Lächeln doch ein wenig panisch gemacht.

„Komm auf den Boden zurück, liebe Hanna und bleibe realistisch! Du bist nicht in Mexiko gewesen und Ayten hat dich nicht angesteckt, auch wenn sie bei ihren Hausbesuchen Kontakt mit Bazillenträgern hat!”, beruhigte ich mich und goß das heiße Wasser in den Keramikbecher, in dem schon ein Teebeutel steckte. Auch die hatte ich im Haus. Zum Glück pflege ich immer Großpackungen zu besorgen, dachte ich ein wenig sarkastisch und schnitt eine Zitrone auf. Ihr Saft wird mich auskurieren. Es bleibt nur zu hoffen, daß sie nicht mit zuviel Kunstdünger aufgezogen wurde, da ich mir nicht immer die teuren Bioprodukte leiste, sondern im Diskontladen kaufe. Da das bisher meinen Abwehrkräften nicht geschadet hat, wird es auch heute reichen und die Fernsehschreckensmeldungen brauche ich mir in den nächsten Tagen auch nicht anhören. Werbesendungen in denen für Biozitronen zur Stärkung der Abwehrkäfte geworben wird, werde ich auslassen, dachte ich und nahm einen Schluck heißen Tee, der gut tat. Ein bißchen kratzte er zwar im Hals und da in diesem Augenblick das Festnetztelefon, das immer noch ganz altmodisch auf meinem Vorzimmerkästchen stand, klingelte, rannte ich hin und meldete mich mit heiserer Stimme. Es war Ayten und ich konnte ihr von meiner überhöhten Temperatur, der rinnenden Nase und meinen Horrorphantasien erzählen und sie entscheiden lassen, was zu tun war. Denn Ayten war eine praktische Person, die genauso Rat wußte wie Großmutter Johanna, die die Scheidungswaise Hanna aufgezogen hatte. Aber trotz des Vertrauensvorschusses, den ich meiner Freundin gab, kam es nicht dazu, denn ihre Stimme klang zwar nicht kratzig heiser, aber trotzdem verschnupft, zumindest war sie aufgeregt.

„Es tut mir leid, Hanna, ich werde dich versetzen müssen”, keuchte sie ins Telefon.

„Wir haben einen Anruf von Onkel Hasan bekommen. Die Mama ist aus dem Häuschen. Du weißt, sie ist nicht sehr selbstbewußt. Der Großvater ist verstorben. Wir sollen zum Begräbnis und der anschließenden Testamenteröffnung nach Istanbul kommen. Die Mama traut sich das nicht zu. Ist sie doch noch nie geflogen und seit ihrer Scheidung menschenscheu. Vor ihren Brüdern hat sie, glaube ich, auch Angst. Also muß ich das übernehmen. Ich war zwar auch seit zwanzig Jahren nicht in Istanbul und kann mich an die Onkel nicht erinnern, aber einschüchtern werde ich mich nicht von ihnen lassen. Ich bin Dank Besers Hilfe und meinen Lehrjahren am Jugendamt eine selbstbewußte Frau und österreichische Staatsbürgerin, auch wenn ich nicht so aussehe. In Favoriten bin ich die Türkin, während sie mich in Istanbul wahrscheinlich für eine Ausländerin halten, aber egal. Türkisch kann ich, das übe ich bei meinen Hausbesuchen und spreche es auch mit der Mama, die sich Deutsch nicht zutraut, obwohl sie es sehr gut kann. Also fliege ich nach Istanbul und da ich noch jede Menge Resturlaub habe, kann ich mir die Stadt auch ansehen, in der meine Eltern geboren wurden!”, sagte sie, erkundigte sich, wie es mir ginge und lachte beruhigend.

„Keine Panik, liebe Hanna. Laß dich von H1N1 nicht verrückt machen! Denn erstens hast du es wahrscheinlich nicht, sondern einen ganz gewöhnlichen Virus und selbst wenn, mache ich dich darauf aufmerksam, daß die bisherigen Fälle harmlos verliefen, so daß anzuraten ist, dich zu Hause auszukurieren, statt dich von überforderten Ärzten fertigmachen zu lassen, die selber noch nicht wissen, wie gefährlich diese neue Krankheit ist!”

Ich wünschte Ayten alles Gute und zog mich mit dem Tee ins Schlafzimmer zurück. Sie hat recht, dachte ich und begann mich auszuziehen. Die Nase rann zwar noch immer, aber ich hatte genügend Taschentücher und wenn ich aufwachte, Zeit zum Überlegen, wie ich meine selbstgewählte Quarantäne gestalten würde.


Alfred Nagl