Das Glück in der Nische

sozusagen eine Glogalisierungsnovelle

Für Rhamira gab es nur ein Ziel: Dem elenden Leben in der indischen Fabrik zu entkommen und in die „schöne Wunderwelt Europa” zu gelangen. Dafür ist die junge Frau bereit eine Niere zu opfern. Als illegale Einwanderin in Wien lernt Rhamira schließlich die komplizierten Seiten dieser Wunderwelt kennen.

Eva Jancak beschreibt in ihrer „Globalisierungsnovelle” aber nicht so sehr die sozialen Probleme der jungen Inderin, sondern widmet sich vor allem den psychologischen Aspekten. Für immer, so scheint es nämlich, ist Rhamira mit dem Käufer ihrer Niere, einem österreichischen Suizidforscher, verbunden. Und so entwickelt Eva Jancak ein fein gesponnenes Netz von Verstrickungen mehrerer Menschenschicksale.

Judith Gruber-Rizy

Prolog: Max Traum

Kein Zweifel, Osman ist etwas aufgeregt, als er mit seiner Reisetasche und der Boardingcard den Sicherheitsschalter betritt, um sich für den Flug 729 nach New York einzuchecken. Sehr aufgeregt ist er sogar, ist es doch sein allererster Einsatz, zu dem er heute einberufen wird. Ein Auftrag zur Bewährung sozusagen, die erste Flugzeugentführung an der er teilnehmen darf, an deren Gelingen er demnächst entscheidend beitragen kann. Die gesamte Angst, die er insgeheim dabei empfindet, all die Mühe und die Strapazen der Ausbildung werden damit gerechtfertigt sein. Und, daß seine Hände ein wenig zittern, als er dem Sicherheitsbeamten seine Boardingcard überreicht, ist nicht von Bedeutung. Beziehungsweise wird das kleine Gefühl von Angst im Herzen von Osman sofort erfolgreich zur Seite geschoben. Schließlich ist er mit seinen beinahe zweiundzwanzig Jahren ein erwachsener Mann, wie auch die Einberufung zu seinem ersten großen Auftrag eindeutig beweist. Deshalb ganz mannhaft die Hand auf seine Stirn geschoben und die sich dort befindenden Schweißperlen weggewischt. Es ist sehr heiß in der Abflughalle, kein Wunder, wenn er da zum Schwitzen kommt und es ist auch keine Schande, die er verbergen müßte, absolut ist es das nicht, ganz im Gegenteil. So, jetzt ist er durch die Sicherheitssperre hindurchgetreten und selbstverständlich wurde bei ihm und in seiner Reisetasche nichts Auffälliges entdeckt. Natürlich nicht, wie könnte es auch anders sein. Er hat ein Flugticket von London nach New York und in seiner Reisetasche befinden sich der Koran, ein paar Unterhosen, Reservewäsche, sowie ein Täschchen mit Toiletteartikeln. Ein absolut normales und unauffälliges Reisegepäck also, keine Spur von einer Nagelfeile, einem Taschenmesser und selbstverständlich versucht er auch keinen Revolver oder eine Bombe an Bord zu schmuggeln. Natürlich nicht, schließlich hat er in der Nähe von Kuweit in den letzten Monaten eines der besten Ausbildungslager absolviert und deshalb auch genau darauf geachtet, weder mit einem Schlüßel noch durch Münzen in der Hosentasche dem Sicherheitspersonal aufzufallen und auch die Schweißperlen auf seiner Stirne haben ihn nicht verraten. Sie sind nämlich gar nicht mehr vorhanden, sondern wurden längst durch eine souveräne Geste seiner rechten Hand weggewischt und wenn ihm jemand fragen würde, was er in New York zu tun gedenke, würde er mit derselben Souveränität in seinem besten Schulenglisch die verbindliche Auskunft geben, daß dort sein Onkel auf ihn warte, der ihn über den Sommer zu sich eingeladen hat, damit er ihm in seinem Teppichgeschäft auf der 42. Straße ein wenig zur Hand gehen könne. Keine einzige Sekunde würde er bei einer solchen Frage in Verlegenheit geraten. Mit stoischer Ruhe und absolut höflichen Korrektheit hätte er auf diese Frage geantwortet und wäre dabei genauso emotionell unbeteiligt geblieben, wie er es beim Anblick der beiden kleinen Mädchen war, die vorhin auf einem der Gepäckswagen posierend, von ihrer Mutter fotografiert wurden und über die er beinahe gestolpert wäre, als er mit seiner Reisetasche und dem Ticket die große Abflughalle betrat.

„Nicht so verkrampft lächeln, Sarah, Jennifer! Freundlicher dreinschauen, locker lassen!”, hat die ebenfalls blonde Frau, die etwa Vierjährigen mit den bunten T-Shirts und den auffälligen Haarschleifen aufgefordert und zu ihm hat sie energisch „Excuse me Sir, one second please!”, gesagt, dabei die Hand gehoben und ihn nicht vorbeigelassen. Erst als sie mit dem Lächeln ihrer Töchter zufrieden war und die Bilder abgeknipst hatte, hat sie den Weg freigegeben. So wie es jetzt auch sein Weg in die Maschine ist, die ihm nach New York bringen soll und die, wie er genau weiß, dort doch nicht ankommen wird. Frei und unbehindert wird er sie besteigen, wenn er seine Boardingkarte der Bodenhostesse übergeben hat. Jetzt sieht er auch die Frau mit dem Fotoapparat und den beiden blondlockigen Mädchen vor sich gehen. Ein paar Meter befindet sich die kleine Gruppe vor ihm und hat wohl auch die Absicht dieselbe Maschine zu benützen, um vielleicht Gatten und Vater oder die Großmutter in New York zu besuchen, ein Gedanke der Osman ein leichtes Gefühl der Schadenfreude entlockt, weiß er doch genau, daß es soweit nicht kommen wird. Das ist aber nicht bedauerlich, sondern nur ein Teil des Planes, an dessen perfekter Ausführung er ein wenig beitragen darf. An ihm soll es nicht scheitern. Er ist voll Eifer in seinem Bestreben die Heimat zu verteidigen und ein Held zu werden. Und damit auch zu allem entschloßen, schließlich hat er im Trainingslager alle Ausbildungsgrade mit Bravour bestanden und von seinen Ausbildnern immer nur die besten Zeugnisse erhalten. Jetzt ist die Frau mit den blondlockigen Kindern sowieso seinem Blickfeld entschwunden, er kann sie nicht mehr sehen. Genausowenig, wie er Abdul, Omar und die anderen sehen kann, aber das ist ganz egal, beziehungsweise gehört es auch zu seinem Plan. Sie sind anwesend, das weiß er, wo genau sie sich in diesem Augenblick aufhalten, braucht ihn nicht zu kümmern. Er tut es auch nicht, sondern begnügt sich statt dessen, sich in die Warteschlange vor dem Gate einzureihen. Ruhig und gelassen, fast demütig tut er es. Er braucht nicht zu drängen, kann sich Zeit lassen und auch höflich beiseite treten, um einen Ungeduldigeren vorbei zu lassen. Nicht auffallen ist sein Auftrag. Er hält sich genau daran und so lächelt er nun auch die Bodenhostesse freundlich an, als er ihr seinen Paß und seine Boardingcard überreicht, um kurz darauf in derselben Gelassenheit mit seiner Reisetasche das Flugzeug zu betreten und seinen Sitzplatz aufzusuchen. 11B ist seine Nummer, kein Fensterplatz und soll auch keiner sein, auch wenn er unter anderen Umständen gerne aus der Luke schauen würde, um das Starten zu beobachten und sich an der Höhenlage und dem Spiel der Wolken zu erfreuen. Aber auch das ist genau geplant und auf dem Fensterplatz sitzt schon eine Frau mittleren Alters, die beinahe seine Mutter sein könnte. Eine Frau mit hellbraunen Haaren hat sich auf diesem breit gemacht, die aufgeregt und nervös erscheint. So jedenfalls blickt sie ihm entgegen. Auf jeden Fall scheint sie aber redselig und geschwätzig. Fängt sie doch schon zu sprechen an, noch bevor er richtig Platz genommen und die Reisetasche unter seinen Füßen verstaut hat. Das ist etwas, was Osman haßt und ihm auf die Nerven geht. Die Geschwätzigkeit der Weiber, auch wenn er es sich natürlich nicht anmerken läßt, sondern weiterhin höflich lächelt. Die Aufdringlichkeit der Frauen nervt ihn, wie er es überhaupt verabscheut, von so vielen weiblichen Wesen umgeben zu sein. Was haben sie nur auf dem Flughafen und in der Maschine zu suchen? Der Aufgabenbereich der Frauen ist das Haus und die Küche, da ist er streng orthodox und absolut der Meinung, daß sie ohne Begleitung ihrer Männer oder Väter diese Orte nicht verlassen sollen. Aber in der westlichen Welt sammeln sie ganz unverblümt seine Bordkarte ein, hindern ihm am Einchecken oder sitzen, wie diese redselige Frauensperson, einfach neben ihm und die öffnet jetzt auch ihre Handtasche, um aus dieser einen Kamm und einen Spiegel herauszuziehen. Auch die Eitelkeit der Frauen ist etwas, was er haßt. Sie haben ihre Gesichter hinter Tuch und Schleier zu verbergen, so lehrt es die Sitte, aber die mittelalte Frauensperson neben ihm, ist so schamlos sich in aller Öffentlichkeit zu frisieren und dabei redet sie fortwährend vor sich hin und auf ihn ein. Als Erna Weber oder Webster hat sie sich ihm vorgestellt. So genau, um sich diese Tatsache bis ins letzte Detail zu merken, hat er nicht zugehört. Interessiert sie ihn ja nicht im Geringsten. Er muß vorläufig nur gute Miene zu dem für ihn sehr üblen Spiel vortäuschen und so tun, als würde er ihr zuhören, bis es soweit ist und er in das Geschehen eingreifen kann. Denn es gehört ja zu seinem Auftrag, bis dahin nicht aufzufallen. Also nickt er scheinbar höflich. Murmelt auch seinen Namen und tut, als würde er der braunhaarigen Frauensperson zuhören, die ihm nun erzählt, daß sie nach Amerika fliegen würde, um ihre Cousine Hilda dort zu treffen, die gerade ihren fünfzigsten Geburtstag feiert und mit der sie in Las Vegas das Guggenheim-Museum besuchen will. Er nickt auch zu diesem Unsinn und tut, als würde er ihr glauben und nicht wissen, daß sich in Las Vegas die berüchtigten Spielcasinos befinden. Aber er nickt nur und überlegt, ob er ihr von seinem Onkel Hassan erzählen soll, der auf der 42. Straße natürlich genausowenig ein Teppichgeschäft besitzt, wie die Spielhöllen von Las Vegas ein Museum sind. Ist das nun von ihm gefordert, weiter unverbindlichen Smalltalk mit der aufdringlichen Frauensperson zu betreiben oder genügt es, ihr zuzunicken und sich statt dessen im Flugzeug orientierend umzuschauen? Osman entscheidet sich für das letztere und so entdeckt er auch Abdul einige Reihen vor ihm, was ihn beruhigt und zufrieden stellt. Aber noch ist es nicht so weit, erst erscheint das "fasten seatbelt"-Zeichen auf den Anschlagstafeln und eine andere Frau, besteht die Flugzeugwelt wirklich nur aus solchen, in einem schamlos kurzen roten Röckchen, das Teil ihrer Uniform ist, erscheint um ihm den Gebrauch der Schwimmwesten zu erklären. Wieder muß er ein wenig lächeln. Weiß er das alles doch viel besser, als es sich die Stewadesse hier vorstellt und bei diesen Gedanken kann er sich nun entspannen. Tief durchatmen kann er und ruhiger werden. Die Frau neben ihm hat aber keinen Entspannungsplan, sie redet fortwährend weiter. Er hört ihr nicht mehr zu, sondern schließt für einen Moment die Augen, um sich auf die Strategien der nächsten Minuten zu konzentrieren, dann öffnet er sie wieder und blickt auf seine Armbanduhr. Das Timing stimmt absolut, das Flugzeug startet, in exakt zwanzig Minuten wird es soweit sein. Als er wieder zur Lukenseite blickt, sieht er, daß sich seine Nachbarin immer noch frisiert. Offenbar scheint sie sobald damit nicht fertig zu werden. Jetzt hat sie auch noch einen Haarspray aus ihrer Tasche genommen und beginnt sich von allen Seiten mit dem stinkenden Zeug einzusprühen, während sie sich in ihrer Rede auf etwas anderes konzentriert. Beginnt sie doch von der Mahlzeit zu sprechen, die sie erwartet, sobald das Flugzeug die gewünschte Höhe erreicht hat und sie bedauert mit ausschweifenden Worten, daß die wohl aus den üblichen Schinkensandwiches bestehen würde, während sie sich Schnittlauch und Petersil wünscht.

„Vitamine”, sagt sie zu ihm.

„Vitamine sind gesund und verleihen Kraft und Energie. Ich liebe Schnittlauch und würde ihn am liebsten auf allen meinen Sandwiches essen, während das Fleisch von Tieren zu verzehren, doch etwas Unmenschliches ist. Wissen Sie, junger Mann, ich bin Vegetarierin” und da kann er ihr fast ein wenig zustimmen, denn wenn er auch kein Vegetarier ist, Schweinefleisch zu essen, verabscheut auch er aus religiösen Gründen mit seiner ganzen Seele. Sympathischer wird ihm die braune Frauensperson mit ihren Kamm und ihrem Haarspray dadurch aber nicht. Wieder blickt er auf seine Uhr. Jetzt fehlen noch knappe zehn Minuten. Er hört dem Weibergeschwätz nicht mehr zu, sondern konzentriert sich auf seinen Einsatzplan und damit auf die heroische große Sache, an der er mitwirken wird. Bald ist es soweit. Jetzt braucht er aber absolute Ruhe, muß er sich doch an alle Anweisungen halten und so blickt er in die fünfte Reihe und zu Abdul hin, der das Einsatzzeichen geben wird. In wenigen Minuten wird es so weit sein, das haben sie im Lager genauest trainiert, der Zeitplan muß stimmen, das ist wichtig. Das Weibergeschwätz neben ihm dagegen völlig unbedeutend. Er entspannt seine Stirn und konzentriert sich aufs Äußerste. Denn jetzt wird es geschehen, er muß nur auf Abduls Einsatzzeichen achten und sieht jetzt auch, daß der sich punktgenau auf die Sekunde erhebt. Nur was ist das? Es geht nicht weiter nach dem genauen Plan, denn Abdul gibt ihm nicht das erwartete Zeichen. Er scheint das zwar zu wollen, kann es ihm aber nicht erteilen, wird er doch von den beiden Männern, die neben ihm sitzen, daran gehindert, die, als Abdul aufstehen wollte, ihn überwältigt und niedergerungen haben. Was soll er jetzt tun? Wie lauten seine Anweisungen für diesen Fall der Fälle? Das Abdul von zwei Passagieren an der Ausführung gehindert wird, haben sie nicht vorausgesehen und daher auch keine diesbezüglichen Gegenstrategien eingeübt. Hat er nun nach vor zu eilen, um Abdul zu Hilfe zu kommen? Sich in den Kampf einmischen und die beiden unerwarteten Angreifer überwältigen? Das ist wohl was von ihm erwartet wird, was die Brüder von ihm wünschen und er ist auch fest entschloßen das zu tun, nur was ist das? Die geschwätzige Frauensperson neben ihm, beziehungsweise ihre Haarspraydose hindern ihn daran. Dabei hat sie von dem, was da sechs Reihen weiter vorn geschieht, natürlich keine Ahnung. Schaut sie ja immer noch in ihren Spiegel und fährt sich mit dem Kamm über ihre Haare, beziehungsweise holt sie jetzt so mit ihrem Haarspray aus, daß sein Strahl statt in ihr Haar, in sein Gesicht zischt, in seine Augen dringt und sein Sichtfeld für die nächsten Momente so vernebelt, daß er Abdul nicht mehr sehen kann. Und das Zeug stinkt auch noch so erbärmlich, daß er, wie ihm scheinen mag, beinahe das Bewußtsein verliert und dabei schwatzt die Frau neben ihm noch immer von ihrem Grünzeug und der Kraft der Vitamine, die sie statt Schinken auf ihrem Sandwich essen will, um davon stark zu werden. Von der Macht der positven Energie, schwatzt sie inzwischen und hört nicht und nicht damit auf, während ihm nun ist, als würde er durch ihren stinkenden Haarspray bewußtlos werden. Auf jeden Fall fehlt ihm aber die Energie ihre Hand und ihren verdammten Haarspray wegzuschieben. Er will es zwar, besitzt aber keine Kraft mehr dazu, kann er doch gerade noch ihre Stimme hören. Jetzt aber hat sie das Thema gewechselt und scheint auch von ihrem Spiegel auf und die sechs Reihen weiter nach vorn, auf den Mann an Abduls Seite zu blicken, der sich erhoben hat und auf sie zuzukommen scheint.

„Was ist Max?”, hört er sie ihm fragen.

„Alles in Ordnung, Erna! Es wird keine Entführung geben. Wir werden in New York ganz plangemäß landen und gleich wieder zurückfliegen können. Wir und unsere WVBSHG haben wieder einmal Erfolg gehabt”, ist das letzte was er hören kann, dann verliert er wirklich das Bewußtsein. Der verdammte Haarspray der redeseligen Frauensperson an seiner Seite ist zu stark gewesen.

Rhamira, das Mädchen aus der Fremde

Nasren Aydin steht auf dem kleinen Namensschild, das auf meinem dunkelblauen Arbeitsmantel befestigt ist und das ich immer bei mir trage, wenn ich mich im Einkaufszentrum aufhalte, da ich sonst den supermodernen Gebäudekomplex gar nicht betreten darf.

Nasren Aydin meine unbekannte Schwester, Namensgeberin und offensichtliche Vorgängerin, deren Identität sie mir bei der Wohltätigkeitsorganisation übergestülpt haben, da ich ja ein Flüchtling mit fehlender Aufenthaltsberechtigung bin.

Nasren Aydin, keine Ahnung wer sie ist und wo sie sich aufhält, meine mir unbekannte Namensschwester. Vielleicht hat die Glückliche inzwischen in eine legale Identität hineingewechselt und darf ihren offiziellen Namen tragen. Vielleicht existiert sie überhaupt nur als Namensschild, damit die Organisation ihre Schützlinge betreuen und ihnen Arbeit geben kann.

Ich jedenfalls heiße Rhamira, komme aus Bombay, bin vorgestern dreiundzwanzig Jahre alt geworden und lebe seit drei Wochen in der fremden Stadt, deren Sprache ich nicht verstehe und in der ich mich infolgedessen auch nicht sehr heimisch fühle.

Eine Tatsache die, da ich mich vor ein paar Monaten noch in der Factory befunden habe und dort an einer großen Nähmaschine Sohlen von eben diesen Lauf-und Tennisschuhen auf vorgefertigte Leinenteile genäht habe, die auch hier angeboten, gekauft und getragen werden, ganz natürlich ist. Habe ich ja gerade erst begriffen, daß das Land, in dem sich das Einkaufszentrum befindet, Austria und die Stadt Vienna heißt und ich muß die Landessprache auch erlernen, wenn ich eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung bekommen will.

Noch ist es aber nicht so weit. Noch bin ich weit davon entfernt und habe keine Ahnung, wie es mir gelingen soll, in dem fremden Land meine Geschichte zu erzählen, von dem ich, als ich in der Factory die Schuhsohlen an das Obermaterial nähte, nicht viel Ahnung hatte. Nichts hatte ich davon gehört oder doch nur die paar Grundbegriffe, die sich in die Dorfschule und später in besagte Factory verirrt haben.

Salzburg, Mozart, Mozartkugeln, Lipizzanerpferde, das war schon alles und nun lebe ich seit drei Wochen in einem Zimmerchen neben Büro und Küche einer Wohngemeinschaft für psychisch kranke Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Darf mir abends auf einer Kochplatte meinen Reis bereiten und Tee kochen und, als mich illegal Aufhaltende mit einem fremden Namensschild, den Boden und die Fenster eines neuen Einkaufszentrum im Regierungsviertel der Stadt putzen und mir dabei wünschen, daß es einmal gelingen wird, eine offizielle Aufenthaltsberechtigung und einen Asylantrag zu bekommen. Dazu müßte ich aber meine Geschichte erzählen, was augenblicklich, da ich außer Englisch und Hindi keiner anderen Sprache mächtig bin, nicht gut möglich ist. Noch finde ich dazu weder den Mut noch die rechten Worte und natürlich auch nicht die Gelegenheit, sehe ich doch gerade einen der Manager nach mir Ausschau halten, da auf dem Boden Bier, Milch oder auch Coca Cola verschüttet wurde und ich bin ja dazu da, ihn reinzuhalten. Also nach meinem Reinigungswagen greifen und meine Pflicht erfüllen und so komme ich im Augenblick nicht mehr dazu, an die verlorene Heimat und die Umstände, die mein Leben so verändert haben, zu denken.

Fünf Stunden später ist Schichtwechsel. Ich habe Dienstschluß und kann nach Hause fahren, was das kleine Haus bedeutet, in dem sich die betreute Wohngemeinschaft für Menschen mit besonderen psychischen Bedürfnissen befindet, in das die Hilfsorganisation, deren Namen und Adresse mir der Führer der Schlepperbande, die mich zuerst mit einem Flugzeug nach Europa und dann mit einem Kleinbus über Ungarns grüne Grenze an den Stadtrand Wiens gefahren hat, mich untergebracht hat.

Am Stadtrand Wiens hat mich der Führer aussteigen lassen, mich allein, meine anderen Fluchtgenoßen, eine Familie mit zwei kleinen Kindern sind weiter in dem Bus verblieben und hat mir einen Fahrschein der Wiener Verkehrsbetriebe, einen Stadtplan, einen Zwanzigeuroschein und die Adresse jener Hilfsorganisation, die mich so freundlich aufgenommen hat und mir Job und Unterkunft, sowie die falsche Identität besorgte, in die Hand gedrückt.

„Dorthin mußt du gehen!”, hat mir Sam, der Führer eingeprägt und mir auch die Bushaltestelle gezeigt. Dann hat der Chauffeur zu starten angefangen, Sam ist aufgesprungen und ich bin am frühen Morgen, als es noch ganz dunkel war, in meiner Jeans, der braunen Jacke und meinem Rucksack, in dem ein paar Kleidungsstücke steckten, am Stadtrand von Vienna gestanden und habe den Rest der tausend Dollar in der Hand gehalten, die mir Dieter Eckstein vor zwei Monaten, als das begonnen hat, was ich als das größte Abenteuer meines Lebens bezeichnen möchte, in der Bombayer Privatklinik überreichte und die ich kurz darauf der Schlepperbande übergeben habe, weil ich das Abenteuer suchte und mein restliches Lebens nicht in der Factory verbringen wollte.

„Europa”, habe ich zu den Organisatoren gesagt und mir riesengroße Vorstellungen von dem Wunderland, in das ich kommen würde, gemacht. Sie haben genickt und auch ihr Wort gehalten und mich für meine tausend Dollar hierher gebracht.

Alles hat sehr schön und wunschgemäß geklappt. Ich kann mich nicht beklagen und stehe jetzt statt in der Bombayer Factory, vor dem Spind des hochmodernen Einkaufszentrums und entledige mich des dunkelblauen Arbeitsmantels mit der fremden Identität. Das heißt die Identitätskarte muß ich von dem blauen Stoff herunterlösen, kann ich ohne sie doch den Ausgang nicht passieren und morgen früh, um halb acht auch nicht hinein, aber sonst ist hier alles anders.

Sehr viel schöner und auch wunderbarer, als in Bombay selbstverständlich, obwohl es noch dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt ist, in das ich meinen Körper nun, anstelle des blauen Arbeitsmantels hülle, dieselben Kleider und daher muß es, trotz des falschen Namens auch dieselbe Rhamira sein, deren Gesichtszüge mir aus dem kleinen Spiegel entgegenblicken. Und das stimmt ja auch, bis auf eine kleine, laut Dr. Ruddys Aussage nicht sehr bedeutende Einschränkung, stimmt es voll und ganz.

In der Factory war es eine halbblinde Metallscheibe, die wir in der Garderobe hatten, hier gibt es einen schönen Spiegel und ich bin hier auch ein freier Mensch. Darf mich in diesen Räumen also frei bewegen, wenn auch nicht ganz uneingeschränkt, da ich im Augenblick ja weder Papiere, noch eine offizielle Aufenthaltsberechtigung habe. Die Papiere habe ich dem Chef der Schlepperbande in Bombay übergeben und nicht mehr zurückbekommen, nur die zwanzig Euro, den Stadtplan und den Tagesfahrschein. Daher gibt es für mich auch keinen Asylantrag, haben mir die freundlichen Leute der Wohltätigkeitsorganisation erklärt und mir die Identitätskarte jener Nasren Aydin, meiner unbekannten Namensschwester, überreicht. Sonst bin ich aber frei und verfüge sogar über eine Wohnung. Das heißt ein Zimmerchen in der betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit besonderen psychischen Bedürfnissen. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich mir diese Bezeichnung gemerkt habe und sie richtig aussprechen konnte und einen Job in dem neuen Einkaufszentrum habe ich nun auch.

Eine Aufenthaltsgenehmigung werde ich auch noch bekommen, wenn ich nur etwas warte und Geduld besitze, so haben es mir Sam von der Schlepperbande und Frau Steiner von der Hilfsorganisation erklärt und warten kann ich, bin ich ja jung und gesund. Bei diesem Wort zucke ich zwar etwas zusammen und verspüre den Schmerz an der Narbe und im Bauch, aber das ist Einbildung und infolgedessen genauso ein psychischer Defekt, wie Max und Erna in der Wohngemeinschaft ihre Einbildungen und Zwangsgedanken haben. Das hat mir Dr. Ruddy in der Bombayer Privatklinik erklärt, obwohl er von Max und Erna in der Wohngemeinschaft am Stadtrand von Vienna, natürlich keine Ahnung hatte.

Wenn ich es also auch nicht ganz verstehen kann, es ist nicht anders und ich wollte es auch so. Ich habe mich ganz freiwillig dafür entschieden und mich über die tausend Dollar, die mir der fremde Professor mit dem traurigen Blick in die Hand gedrückt hat, auch sehr gefreut und bin jetzt in dem fremden Land, das meine neue Heimat werden soll. Befinde mich im Herzen von Europa, wovon die Mädchen in der Factory noch immer träumen und sehnsuchtsvoll darüber schwärmen. Ich bin hier in dem modernen Einkaufszentrum und muß mich auch als freier Mensch beeilen. Sputen muß ich mich, denn da ich statt Papiere nur eine falsche Identitätskarte besitze, darf ich den Sicherheitskräften im Eingangs-und Kontrollbereich nicht auffallen und sollte sie nicht auf mich aufmerksam machen. So haben es mir Frau Steiner und die Leute von der Wohltätigkeitsorganisation erklärt und ich glaube ihnen auch.

Also den Arbeitsmantel in den Spind geschloßen, die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden und mit der Haarschleife neu zusammenhalten. Die Lippen zusammenbeißen, damit sie ein wenig Farbe bekommen, da ich mir die teure Kosmetika noch nicht leisten kann, die es hier zu kaufen gibt, aber so haben wir es auch in Bombay praktiziert, um schön zu sein und uns zu schmücken.

Hier ist alles anders, hier bin ich ein freier Mensch, auch wenn niemand wissen darf, daß ich Rhamira und nicht Nasren Aydin heiße. Die Sicherheitsguards an der Sperre glauben mir auch meine Identität, auch wenn Nasren Aydin, wenn ich mich nicht irre, eher aus Teheran oder Istanbul, als aus Bombay stammen sollte, dem Sicherheitsguard ist das egal, er schaut mich gar nicht an, sondern winkt mich durch die Sperre und ich darf das moderne Einkaufszentrum, als freier Mensch verlassen, denn Vienna in Austria ist ja eine freie Stadt in einem freien Land und ich habe es auch völlig problemlos geschafft nach Europa zu gelangen, wo manches so ganz anders, als in der Bombayer Factory ist.

Dem jungen hübschen Securityguard am Kontrollpunkt also zugelächelt, mit genau jener schüchtener Freundlichkeit, die sowohl einer Rhamira aus Bombay, als auch einer Nasren Aydin aus Istanbul oder Teheran zukommen mag. Keine Ahnung, wo sich diese mir noch viel unbekannteren Städte befinden mögen. Bin ich dort doch noch nie gewesen und in der Dorfschule, die ich ein paar Jahre besuchte, haben wir nicht viel Geographie gelernt.

Ich habe nur ein bißchen Frau Steiner zugehört und ihr ein paar Fragen für den Fall gestellt, daß sich jemand nach der Herkunft von Nasren Aydin erkundigen könnte, was aber in den drei Wochen, seit ich den blauen Arbeitsmantel trage, noch nicht geschehen ist. Passiert hier alles ja sehr hastig und in Eile und auch der hübsche schlanke Mann in der ebenfalls blauen Uniform der Sicherheitsgesellschaft fragt nicht nach, sondern winkt mir verabschiedend zu.

„Tschau” oder „Good bye”, könnte seine Geste bedeuten oder natürlich auch „Auf Wiedersehen”.

Soviel Deutsch habe ich von Max inzwischen schon gelernt, daß ich mich damit verabschieden kann. Es ist eine der wenigen Wendungen, die ich verstehe, wenn ich hier aber mit Asylantrag verbleibe, werde ich die Sprache lernen müßen, hat Frau Steiner mir erklärt.

Seit Jahresanfang gibt es nämlich einen Integrationsvertrag. Ich habe genau zugehört und bin ja auch bereit die Landessprache zu erlernen. Noch muß ich mich aber nicht beeilen. Noch heiße ich Nasren Aydin und dieser wird die englische Sprache auch geglaubt. Der junge blaue Sicherheitsmann stört sich jedenfalls nicht daran, sondern öffnet mir das Tor, um mich aus dem Kontrollbereich herauszulassen, da das neue Einkaufszentrum im Regierungsviertel liegt, muß alles genau geregelt sein.

Frau Steiner spricht perfekt Englisch und Max und Erna von der Wohngemeinschaft, die einzigen meiner derzeitigen Mitbewohner, mit denen ich bisher in Berührung gekommen bin, tun das auch und bei Fahrid, dem Ägypter, der ein ähnliches Identitätsproblem, wie ich zu haben scheint und der auch in der Wohngemeinschaft zu übernachten pflegt, scheint es sich ebenfalls um die gebräuchliche Sprache zu handeln. Vielleicht ist er anwesend, wenn ich nach Hause komme, denke ich, während ich das Einkaufszentrum verlasse und der U-Bahnstation entgegenstrebe.

Nach Hause, wie das klingt? Natürlich ist die Wohngemeinschaft für Menschen mit besonderen psychischen Bedürfnissen nicht mein Zuhause, auch wenn ich derzeit ein Zimmer dort bewohne. In der Factory habe ich im Wohnhaus nur ein schmales Bett gehabt und deshalb habe ich mich in das Geschäft mit Dieter Eckstein überhaupt erst eingelassen und bin, um aufzusteigen und irgendwann auch zu den Gewinnern dieses Lebens zu gehören, mit der Schlepperorganisation in die fremde Stadt gekommen.

Jetzt aber kommt die U-Bahn, um mich aus dem Zentrum zu bringen, denn die Wohngemeinschaft befindet sich in einem alten Haus, das am Stadtrand liegt und ich habe schon gelernt, wie ich die U-Bahn benützen muß. Von der einen in eine andere umsteigen und mit dieser bis zur vorletzten Station, an den Rand der großen Stadt, obwohl Bombay natürlich noch viel größer ist.

Bei der Station, an der ich die U-Bahn zu verlassen habe, befindet sich auch ein Einkaufszentrum. Ich nenne es das alte, weil es schäbiger, als das ist, in dem ich mit meiner geborgten Identität, die Böden und die Fenster putze. Ein altes Einkaufszentrum, das schon einen abgenützten Eindruck macht. Trotzdem pflege ich es zu betreten, wenn ich die U-Bahnstation verlassen habe, um mir Reis, Tee und einen Liter Milch für das Abendessen einzukaufen, denn ich logiere ja inoffiziell in der Wohngemeinschaft. Darf in dem kleinen Zimmer, das neben Büro und Küche angesiedelt ist, also schlafen. Bei den Mahlzeiten bin ich aber nicht dabei und gelte bei den Hausbewohnern vielleicht auch für eine Reinigungskraft, denn wie gesagt, außer Max und Erna hat mich noch niemand angesprochen. Ich muß mir das Frühstück und das Abendessen in der Küche selbst bereiten und auch die Lebensmittel von dem Geld, das ich im Einkaufszentrum verdiene, besorgen. Was mir aber gar nichts ausmacht, da ich von dem gebratenen Reis, den ich mir zuzubereiten pflege, sicher nicht so leicht Heimweh bekomme, wie ich es bei den fettigen Fleischspeisen tun würde, deren Reste ich in der Küche vorfinde, wenn ich sie benütze und die sich die Hausbewohner offenbar so zuzubereiten pflegen.

Heimweh? Es könnte sein, daß ich davon betroffen bin, obwohl ich ja freiwillig und sehr gerne weggegangen bin und von den Mädchen in der Factory auch darum beneidet wurde.

Ich habe den Peis bezahlt, den die Schlepperorganisation von mir haben wollte und befinde mich jetzt in dem hochgelobten Kontinent. Und habe trotzdem manchmal Heimweh nach dem Dorf und nach der Factory, wo ich zwar nicht meine Freiheit, aber doch meine Identität und auch noch beide Nieren hatte. Auch wenn ich diese Gefühle nicht zulasse und so wie jetzt, fest meine Tasche an mich pressend, die U-Bahn verlasse und dem alten Einkaufszentrum zustrebe, das verglichen mit dem, von dem ich gerade komme, wirklich einen etwas heruntergekommenen Eindruck macht.

Dafür benötige ich aber keine Identitätskarte, um es zu betreten und auch kein Sicherheitsguard schaut mich mißtrauisch an. Was gut so ist, denn der Diskontmarkt in dem ich mir eine Packung Tee, einen Sack Reis, Milch und ein kleines Brot besorgen werde, liegt neben einem Schuhgeschäft, das gerade aufgelassen wird und daher jeden Schuh, um den halben Preis verkauft. Die begehrten Markenschuhe, bei denen ich in der Factory, die Sohle an das Leinen nähte, befinden sich zwar nicht dabei. Aber die türkischen Frauen, die sich mit ihren weiten Mänteln und den tief ins Gesicht geschobenen Kopftüchern in dem Geschäft aufhalten, finden auch an den vorhandenen Modellen Gefallen. Sogar großen Gefallen finden sie daran, denn sie haben sich mit ihren Kindern, um die Probierstühle eingefunden, haben sich in Thermosflaschen Tee oder Kaffee mitgebracht und wühlen jetzt in einem ganzen Berg von Schuhen, die sie unter Lachen, Kichern und Erzählen nacheinander anprobieren und sie verwenden dabei natürlich eine Sprache, die ich nicht verstehe und da ich nicht möchte, daß sie mich mit meiner falschen Identität entlarven, laufe ich mit schnellen Schritten an dem Schuhgeschäft vorbei, strebe den Diskontmarkt an und suche das Regal mit dem Tee und den Gewürzen auf, wo ich mich auch ein wenig heimischer fühle, obwohl ich das kehlige Lachen der türkischen Frauen und ihrer Kinder immer noch gut hören kann.


Alfred Nagl
Last modified: Thu Feb 8 19:02:42 CET 2007