Bratislava, Prag, Budapest oder ein Dreimäderlhaus

Sie kommen aus Budapest, Prag, Bratislava und sind Nachbarinnen in dem Wiener Altbauhaus.

Die zweiunddreißigjährige Journalistin Zsofi Burda ist von Budapest nach Wien gekommen, weil sie unter dem Orban-Regime ihren Job verloren hat und hier ein Onlineportal aufbauen will.

Katalin ist zum Studium von Bratislava nach Wien gekommen, hat sich hier verheiratet, drei Kinder geboren und möchte jetzt ihre Karriere als Geigerin wiederaufnehmen und in der „Wilden Mischung” spielen, wenn ihre Kinder sie das lassen würden und Jelena aus Prag, die Schwierigkeiten mit ihrem Bruder und ihrer Mutter hat, um die sie sich kümmern muß, hat Schwierigkeiten sich in eine Beziehung einzulassen, weil sie nicht genauso enttäuscht, wie ihre Mutter werden will.

1.

Zsofi Burda seufzte, als der Zug am Hauptbahnhof stehenblieb, sie sich mit ihrem Trolley zum Ausgang bewegte und wenig später auf dem Bahnsteig stand.

„Wien Hauptbahnhof”

Sie seufzte erneut.

„Ankommen, aussteigen und ein neues Leben beginnen!”

Das hatte sie sich vorgenommen und würde sie tun, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob ihr Entschluß nach Wien zu fahren, eine gute Idee gewesen war und sie ihn nicht bereuen würde?

„Versuch es!”, hatte ihr ihre bald siebzigjährige Mutter geraten, als sie vor zwei Tagen mit dem Trolley vor ihrer Tür stand und zaghaft fragte, ob sie die nächsten Tage bei ihr wohnen könne?

„György hat mich hinausgeschmissen?”, hatte sie gestammelt, war rot geworden und die Hände hatten ihr gezittert, als sie den Trolley abstellte.

„Kannst du, Kindchen, komm herein!”, hatte Edelka Burda beruhigt, die Tür geöffnet und sie an sich gedrückt.

„Das ist keine Frage! Komm herein und erzähl, was geschehen ist? Ich mache Tee oder möchtest du ein Glas Wein?”

Dann abwechselnd genickt und den Kopf geschüttelt, als Zsofi ihr ihr Leid geklagt hatte.

„Die Redaktion hat mich gekündet, weil meine Artikel zu aufmüpfig sind und György hat gemeint, ich wäre ihm zu revolutionär und könnte seiner Karriere schaden! Jetzt stehe ich vor dir! Habe den Job, die Wohnung und die Beziehung verloren, Mama und keine Ahnung, wie es weitergeht?”, hatte sie geschluchzt. Die Mutter hatte sie wieder an sich gedrückt, ihr den heißen Tee eingeflößt „Beruhige dich, Kindchen!”, gesagt, um nach einer Weile hinzuzufügen „Ein bißchen rebellisch bist du schon und das ist in Zeiten, wie diesen, in der Stadt in der wir leben, nicht so gut! Hast du schon daran gedacht ins Ausland zu gehen? Nach Wien vielleicht oder Berlin und von dort deine Stimme zu erheben, wo dir niemand schaden kann und man sie auch hören will?”, hatte sie vorgeschlagen. Zsofi hatte genickt. Natürlich hatte sie schon gemerkt, daß sie in Budapest keine Karriere als Journalistin machen konnte. Aber wohin sollte sie gehen? In Wien oder Berlin würde sie so schnell keine Stelle finden. Eine Onlineplattform aufbauen schien aber möglich und so hatte sie am nächsten Tag das Netz abgesucht und prompt einen Platz in einer WG in der Wiener Lenaugasse gefunden.

„Vielleicht solltest du es versuchen, Kindchen?”, hatte die Mutter, die über ihre Schulter in den Laptop blickte, wiederholt und „Versteh mich nicht falsch!”, hinzugefügt.

„Natürlich kannst du bei mir wohnen! Platz habe ich genug! Dein Kinderzimmer steht leer! Ich könnte mich glücklich schätzen, Gesellschaft zu haben und wenn du mir die Einkaufstaschen in den dritten Stock hinaufträgst, wäre das auch sehr fein! Du wirst hier aber nicht die Wahrheit schreiben können und keinen Job bei einer Zeitung finden! Also mach Nägel mit Köpfen und fang von vorne an!”, hatte sie geraten, sie zum Keleti-Bahnhof begleitet, wo sie den Nachtzug nahm und ihr nachgewunken. Wenn sie sich nicht irrte, waren ihre Augen feucht geworden und der Mutter vielleicht genauso bang, wie ihr selber war. Sie hatte den Trolley zum Ausgang gerollt. Dann griff sie in ihre Anoraktasche, um das Handy herauszuholen, in dem die Adresse stand, wo sich ihr WG-Zimmer befand. Lenaugasse 8, Tür 12, im achten Gemeindebezirk. Sie hatte mit einem Benedikt Scheringer gemailt der ihr geschrieben hatte, daß er sich mit seiner Freundin Dora ein Zimmer teile. Ein Zweites gehörte einer Jelena, die aus Prag stammte. Das von Matthias wäre frei, seit der sein Erasmus-Semester in Lissabon angetreten hatte. Auf ein Jahr befristet konnte sie es übernehmen. Sie hatte zugestimmt und sah auf ihrem Handy, daß sie mit dem Bus bis zur Josefstädterstraße fahren mußte, dann ein Stück zu Fuß gehen, um ihre neue Wohnung zu erreichen. Von dem Zimmer hatte ihr Benedikt, der im letzten Stadium seines Architekturstudiums stand, Fotos geschickt. Das Zimmer schien groß und geräumig. Die Freundin war Schauspielerin, dann gab es noch eine Jelena, die wenn sie es recht verstanden hatte, Tschechin war und Publizistik studiert hatte.

„Eine Kollegin von dir!”, hatte Benedikt geschrieben. Oder doch nicht ganz.

„Denn die Jel macht jetzt eine Zahntechnikerinlehre, weil sie doch nicht Journalistin werden will! Und du mußtest dem Orban-Budapest den Rücken kehren, weil die Zensur dort keinen freien Journalismus zulassen will?”, hatte er weiter gefragt.

„Toll, daß du ein Onlineportal aufbauen willst! Ich freue mich auf dich!”

So hatte sie die Sachen gepackt, die sie vor zwei Tagen aus der Wohnung, in der sie fast fünf Jahre mit György gelebt hatte, zu ihrer Mutter getragen hatte, die ihr versprochen hatte, auf den Ferenc Ter zu fahren und sich um den Rest zu kümmern und sie hatte sich in den Zug gesetzt. War jetzt in Wien angekommen, das sie von einigen Besuchen kannte, sich aber dennoch fremd fühlte und sah ein riesiges Chaos vor sich, wenn sie mit ihren zweiunddreißig Jahren in einer fremden Stadt ein neues Leben in einer Studenten-WG beginnen sollte, weil sie György nicht mehr in der geräumigen Altbauwohnung haben wollte, in die sie einiges hineingesteckt hatte und der Chefredakteur, den sie für ihren Freund gehalten hatte, ihr überraschend gekündigt hatte.

„Du mußt verstehen, Zsofi, mir bleibt keine Wahl und du wirst dich schon durchsetzen!”, hatte er gesagt und auch hinzugefügt, daß sie es vielleicht im Ausland, wo man kritische Stimmen schätzen würde, versuchen sollte. Das hatte sie auch getan. Zsofi hatte ihren Trolley in den Bus geschoben und sich eine Fahrkarte aus dem Automaten gedrückt.

„In Wien herrscht Maskenpflicht! Bitte setzen Sie eine solche auf!”, hatte ein Tonband an der Wiener Stadtgrenze verlautet und sie hatte sich eine solche, nachdem sie Geld gewechselt hatte, in einem Drogeriemarkt besorgt und vor sich hingelächelt. Zumindest hatte sie das versucht, weil es ein wenig lustig war, daß sie Budapest verlassen hatte, weil die Zensur dort sie an ihrer Karriere hinderte und jetzt eine Maske brauchte, um mit den öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren, was in Budapest nicht nötig war.

„Wien ist anders!”, dachte sie und sah in das maskenlose Gesicht eines älteren Mannes, der gerade von einer Wienerin angeschnauzt wurde.

„Maske auf! Gefährden Sie mich nicht! Wir haben eine Grippewelle und ich will mich nicht anstecken!”, kreischte sie, der ruhig „Regen Sie sich nicht auf, Gnäd\-ig\-ste! Die Pandemie ist vorbei und wir sind die letzte Stadt, die wegen ihres Bürgermeisters noch so rück\-stän\-dig ist, diese Fetzen zu verlangen! Meinen Sie nicht auch, Gnä\-dig\-ste?”, fragte er auf ihren Trolley zeigend plötzlich sie.

„Sie kommen aus dem Ausland oder einem anderen Bundesland und wundern sich vielleicht über unsere Rückständigkeit?”, fragte er direkt und sie nickte verlegen. Wollte sie doch nicht auffallen, obwohl sie sich über die Maskenpflicht auch ein wenig wunderte.

„Aus Budapest!”, antwortete und wußte nicht, ob sie sich ärgern sollte, als er „Aus dem Land der Diktatur!”, konterte, wissen wollte, ob man sich dort auch maskieren mußte und auf ihr Kopfschütteln triumphierend zu seiner Nachbarin „Sehen Sie, Gnädigste, das muß man dort, wo keiner seine Meinung sagen darf, nicht! Nur bei uns ist man so rückständig!”, schimpfte. Zsofi atmete noch einmal durch. In ihr Handy schauen, sich am Stadtplan zu orientieren und etwas später den Trolley, die Josefstädterstraße am Theater vorbei, in Richtung Lenaugasse hinunterrollen. Das Haus Nummer acht, das ebenfalls ein Altbau der Gründerzeit, wie das, in dem sie mit György die letzten fünf Jahre gelebt hatte, zu sein schien, war bald gefunden. Sie drückte auf die Gegensprechanlange und sah, während sie auf das Öffnen wartete, auf die Uhr. Halb acht. Der Architekturstudent, seine Freundin und die Zahntechnikerin würden vielleicht noch schlafen oder in die Werkstatt aufbrechen und war erleichtert, als sie ein Summen hörte. Es war jemand zu Hause, der ihr das Zimmer zeigen konnte und wich aus, weil sie fast in einen kleinen Jungen hineingelaufen wäre, der mit seiner Mutter und zwei kleineren Kindern, mit einem Schulrucksack, die Stiegen hinuntergestürmt kam.

„Paß auf, Felix!”, hörte sie die Stimme dieser, die ein Kleinkind am Arm trug und lange schwarze Haare hatte. Das etwa vierjährige Mädchen, das hinter ihm die Stiegen hinunterlief, rief laut „Das macht der Felix immer!”

Und zu ihr sagte sie neugierig „Willst du uns besuchen? Aber ich gehe in den Kindergarten, der Felix in die Schule und die Mama mit dem Johannes ins Cafe Hummel! Du willst sicher nebenan, weil da ein Zimmer frei ist, seit der Matthias nach Lissabon gezogen ist! Das liegt in Portugal, nicht wahr, Mama und ist soweit weg, daß man das Flugzeug nehmen muß?”, wollte sie wissen und die mollige Mitdreißigerin mahnte wieder „Sprich nicht so viel, Mira! Wir müssen uns beeilen, um nicht zu spät zu kommen!”

Zu ihr meinte sie entschuldigend „Sie müssen verzeihen, die Mira ist eine Plaudertasche! Ich bin Katalin Steiner und ich freue mich, Sie kennenzulernen, falls Sie die Journalistin aus Budapest sind, die nebenan einzieht!”, stellte sie sich vor und war mit ihrer Kinderschar auf die Straße getreten, während Zsofi mit ihrem Trolley den zweiten Stock erreichte und in der geöffneten Tür ein schlacksiges Mädchen, das rote Wollsocken und einen hellblauen Pyjama trug, stehen sah, das sie unsicher anlächelte und sich mit „Ich bin die Jelena aus Prag, und soll dir die Wohnung zeigen, wenn du die Zsofi Burda aus Budapest bist, die das Zimmer von Matthias übernimmt!”, vorstellte.