Besser spät als nie

Die fünfundsechzigjährige ehemalige Verlagssekretärin Mathilde Schmidt sitzt fast jeden Abend in der Pizzeria ihres Wohnhauses und konsumiert bei dem kurdischen Kellner Gusieppe-Mehmet ein Glas Rotwein, als sich ihr Leben durch den Tod ihrer Zwilligsschwester Natalie und einen Brief den sie von ihr vorher aus Berlin bekommt, schlagartig ändert.

1.

Sie hatte von einem Glas Rotwein geträumt, von einem herrlichen Valpolicella aus der Toskana, den ihr Guiseppe, der Kellner im „Venezia” extra empfohlen hatte.

„Wir haben heute ein spezielles Tröpferl, Signora!”, hatte er geflüstert, die Flasche hochgehalten, an der weißen Serviette, mit der er vorschriftsmäßig ihren Hals umschlungen hatte, gewischt und ihr die rote Flüssigkeit in das Glas geschenkt.

„Buon Appetito!”, hatte er gewünscht, die Speisekarte zugeschlagen, um die von ihr georderte Pizzastange mit Prosciutto und Mozarella in der Küche in Auftrag zu geben, und sie hatte nach dem Glas gegriffen.

„Grazie, Guiseppe!”, geflüstert, dann den guten Saft getrunken und getrunken.

Danach mit einem krächzenden Hals und einem brennenden Gefühl im Kopf aufgewacht und als sie sich an die Stirne griff, war die naß vor Schweiß und der exzellente Valpolicella verschwunden und nie dagewesen. Auf dem Nachtkästchen stand nur der russische Tee mit Honig und Zitrone, den ihr die Frau von der Volkshilfe, die derzeit jeden Morgen und jeden Abend zwanzig Minuten nach ihr schaute, vorsorglich hingestellt und sie daran erinnert hatte, daß sie davon trinken könne, bis sie morgen um halb neun wieder kommen würde, um neuen Tee zu kochen und das Frühstück zu bereiten.

„Damit Sie etwas zum Erfrischen haben, Frau Schmidt!”, hatte sie ebenfalls fürsorglich gesagt. Dann hatte sie ihre Jacke und ihre Tasche genommen und war gegangen. Hatte sie mit ihrem Fieber, der Lungenentzündung und dem krächzenden Hals zurückgelassen und sie hatte auf die Uhr geschaut und wehmütig gedacht, daß das die Zeit war, wo sie jeden Abend in die Pizzeria Venezia, die sich in ihrem Wohnhaus befand, hinunterzugehen pflegte, um sich bei ihrem Lieblingskellner Guiseppe, der, wie sie vermutete, in Wahrheit Mehmet hieß und kurdischer Türke war, ein Glas Valpolicella und dazu einen Insalata Mista oder eine Prosciutto Mozarella-Pizzastange zu bestellen. Wie sie das, seit Lily ausgezogen war und es die Pizzeria an der Ecke ihres Hauses gab, in das sie gezogen war, als sie damals schwanger und überstürzt von Berlin nach Wien zurückgekommen war, beinahe täglich tat. Am Abend setzte sich in das Lokal, um eine Kleinigkeit zu essen und ein Glas Rotwein zu trinken oder auch zwei. Jeden Abend, seit vielen Jahren. Nur heute ging das nicht. Gestern und vorgestern war sie auch nicht dort gewesen, denn seit da plagte sie eine hinterlistige Lungenentzündung, die ihr ihr Hausarzt Dr. Wolfgruber diagnostiziert, Antibiotica und Penicillin verordnete und ihr die Frau von der Volkshilfe geschickt hatte, die ihr das Bett machte, Tee kochte, die verordneten Medikamente verabreichte und sehr freundlich war. Sie servierte ihr Kamillentee oder russischen mit Zitrone, aber keinen Rotwein. Dafür hatte sie kein Verständnis und schien, wie sie aussah auch Antialkoholikerin zu sein, die den Kopf schütteln würde, wenn sie von ihren Gelüsten wüßte. Von ihren geheimen Gelüsten und den Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn gesammelt hatten. Denn jetzt war es schon drei oder sogar schon fünf Tage her, daß sie bei Guiseppe in der Pizzeria Venezia gewesen war. Ob sie ihm abging und er sie vermißte? Vielleicht hatte ihm Dr. Wolfgruber, der seine Praxis auf der anderen Straßenseite hatte, Bescheid gegeben oder die Frau von der Volkshilfe, die möglicherweise doch nicht so abstinent war, hatte ihn bei ihrem Abendgläschen informiert, daß sie an einer Lungenentzündung laborierte und die nächsten Tage oder vielleicht Wochen ausfallen würde.

„No problema!”, würde der wohl mit strahlendem Lächeln seiner weißen Zähne antworten.

„No problema, Signora!” und ihr alles Gute wünschen. Aber gut war es nicht, wie sie merkte, als sie nach nach ihrer Stirne griff und dann mit einer verzweifelten Bewegung zu dem Stövchen, dessen Kerze längst ausgegangen war und die Tonkanne befühlte, in dem sich der von der Frau von der Volkshilfe angepriesene heiße Tee mit Zitronensaft und Honig befinden sollte, der ihr so gar nicht schmeckte. Überhaupt nicht tat er das, wenn man von einem wunderbaren Tröpfchen, einem Valpolicella aus der Toskana geträumt hatte oder war es ein Chianti, den ihr Guiseppe angepriesen hatte? Und sie mußte im Bett ausharren, konnte nicht hinuntergehen und sich von ihm das edle Tröpfchen kredenzen lassen. Brachte es nicht zusammen, ihre Kräfte reichten dazu nicht aus. Auch wenn sie sich nicht genieren würde, im Nachthemd die drei Stockwerke bis zur Pizzeria hinunterzusteigen. Als Stammgästin, die sie war, konnte sie sich das leisten. Sie konnte aber trotzdem nicht. Ihre Kräfte reichten nicht dazu aus. Das hatte sie schon gestern ausprobiert und war nicht weitgekommen. Sie konnte nicht einmal ins Vorzimmer zu ihrem Festnetzanschluß wanken, um Guiseppe anzurufen und sich von ihm das edle Tröpferl bringen zu lassen. Schaffte es nicht, obwohl sie mit allen Sinnen danach lechzte. Denn es war, wie sie auf ihrer Uhr ersah, weit nach Mitternacht. Die Pizzeria würde geschlossen und Guiseppe-Mehmet in die Gemeindewohnung, wo er mit seinen Eltern und seinen Schwestern lebte, gegangen sein und sie mußte im Trockenen bleiben. Konnte sich nur den Schweiß von der Stirn wischen, der sicher von ihren Entzugserscheinungen und nicht von der Lungenentzündung kam. Sich mit einem kalten abgestandenen Zitronentee begnügen, der ihr, wie sie sicher war, nicht schmecken würde. Mußte ausharren, bis die Frau von der Volkshilfe morgen um halb neun wieder kam, dachte sie verzweifelt. Ihre Stirn war naß vor Schweiß und ihre Hände zitterten, als sie nach der Kanne griff, um sich doch von dem Zitronentee in die bereitstehende Tasse einzuschenken. Sie zitterten sehr stark und es fehlte ihr auch an der Koordination, denn sie hatte sich vergriffen und erwischte statt dem Tee den Brief, der heute aus Berlin gekommen war und in dem ihr ein ihr völlig unbekannter Notar mitteilte, daß ihre Zwillingsschwester gestorben war und sie einlud, zum Begräbnis zu kommen, das in ein paar Tagen am Zentralfriedhof stattfinden sollte, was sie aber, solange sie krank war, nicht konnte, dachte Mathilde Schmidt und lächelte erleichtert auf.