Nicht berühren oder Notizen zur Romanentstehung

Wie bin ich nur auf dieses blöde Wort gekommen und was hat es mit Zoran Simcic zu tun, der sie in diesem Augenblick aus seinem roten Rucksack nimmt und auf den Cafehaustisch stellt, den er vorher auf die Bühne des Turnsaals trug, in dem sie Zarah Bashramis Stück zum zwölften Februar 1934 proben? Sehr verwirrend, die Idee über eine Schreibblockierte, die einen Roman verfassen will und keine Ahnung hat, worüber er handeln soll? Denn sie hat ja alles schon geschrieben und die Dose mit der Aufschrift „Gösser” auf dem Marmortisch passt auch nicht dorthin. Hat man doch wahrscheinlich, als am 12. 2. 1934, die Sozialdemokraten aus den Gemeindebauten schossen , eine solche nicht gekannt und in dem berühmten Cafe Central, hat der Dichter Doderer, eine solche auch nicht bestellt, sondern sicher eine Schale Gold. Das Wort „Bierdose” ist auch eine Verwechslung. Denn eigentlich wollte die Schreibblockierte eine „Wurfgeschichte” über das Wort „Dosenbier” verfassen. Weil sie keine Romanidee hatte, wollte sie sich an Kurzgeschichten ausprobieren und da ist ihr ein Schreibratgeber in die Hände gefallen. In eine Bibliothek gehen, sich mit dem Rücken vor das Regal stellen und nach einem Buch fassen. Ein Wort heraussuchen und notieren. Das Ganze wiederholen. Dann man fünf bis sechs Wörter, über die man eine Geschichte schreiben kann. Das erste Buch, das mir in die Hände fiel, ist Cornelia Travniceks „Chucks” gewesen und da stand „Dosenbier” im Klappentext.

Da steh ich da und steh auch voll daneben
mit Schreibblockaden kann ich aber leben
nur eines schmerzt mich dabei wirklich tief
So komm ich nie ins Literaturarchiv

          Richard Weihs

Nicht berühren oder Notizen zur Romanentstehung

8.

Sie hatte, wie meistens nach dem Aufwachen nach dem blauen Wachsheft gegriffen, die Füllfeder aufgeschraubt und dann doch innegehalten, denn was sollte sie hineinschreiben? Sie erlebte nicht wirklich etwas. Damals, wie heute, war sie darin eingeschränkt oder halt, heute war das Bewußtsein immer gleich, das eines fast sechzehnjährigen Mädchens, das eigentlich bald neunzig würde, wenn man sie nicht so früh weggeholt hätte oder siebenundachtzig, um genau zu sein und darauf hatte Pim immer geachtet, daß sie das war. Er hatte ihr und Margot in dem Amsterdamer Hinterhauszimmer Mathemathikunterricht erteilt, um den sie sich, sie gab es zu, manchmal gedrückt hatte, um sich ihrem Tagebuch zu widmen und die Erlebnisse im Hinterhaus aufzuschreiben, das sie mit Dreizehn bezogen hatte. Wie lange war das her? Sie konnte sich fast gar nicht mehr daran erinnern. Oder doch natürlich, obwohl sie siebzig Jahre später alles wie durch einen grauen Schleier sah. Sie war alleine hier. Hatte den Kontakt zu Pim, der Mutter, Margot und den anderen Hinterhausbewohnern verloren. Alleine auf der Wolke oder auch nicht. Hatte sie doch Freunde gefunden, wie beispielsweise, die zwei alten Herren, die berühmte Dichter waren, von denen sie in der Schule hätte lernen müssen, wenn sie nicht nach ihrem dreizehnten Lebensjahr keine mehr besucht hätte und nur im Hinterhaus von Pim und Margot unterrichtet worden war. So konnte sie sich nicht erinnern, von Heimito und Stefan je etwas gehört zu haben. Das machte aber nichts. Waren die beiden doch auf sie zugekommen, hatten ihr die Hand geküßt und genauso höflich, wie es in ihrer Heimatstadt üblich schien „Küß, die Hand, Fräulein Anne!”, zu ihr gesagt. Sie mußte immer noch ein wenig lachen, denn die beiden waren alte Männer. Viel älter, als sie ihren Vater in Erinnerung hatte, obwohl er später als die beiden gestorben war und der Vater hatte auch ihr Tagebuch gefunden, das sie, als die Nazis gekommen waren und sie aus dem Haus verschleppten, nicht mitnehmen hatte können. Er hatte es herausgegeben, wo es sehr berühmt geworden war. Wie ihr Stefan und Heimito immer wieder versicherten, obwohl sie das auch nicht mehr erlebt hatten. Das heißt, Heimito wahrscheinlich schon. War er doch einundzwanzig Jahre nach ihr gestorben, während Stefan sich schon drei Jahre vor ihrem Tod in seinem brasilianischen Exil das Leben genommen hatte. Etwas, das sie noch immer nicht verstehen konnte und den Kopf schüttelte, wenn der elegante Herr mit den gescheitelten dunklen Haaren, dem kleinen Bärtchen und dem schwarzen Anzug ihre Hand küßte und „Das können Sie auch nicht, Fräulein Anne!”, zu ihr sagte und ihr darauf versicherte, daß sie inzwischen sehr berühmt geworden war. Ihr Tagebuch war verfilmt worden. Es gab ein Theaterstück darüber. Die Kinder lasen es in der Schule, beziehungsweise machten sie mit ihren Lehrern Exkursionen in die Prinsengracht, um sich ihr Versteck anzusehen. Etwas, das sie auch nicht verstehen konnte und ganz ehrlich, auch wenn das die beiden alten Herren nicht zu goutieren schienen und sie undankbar nannten, konnte sie sich auch nicht darüber freuen. Denn was hatte sie davon auf ihrer Wolke?

„Seien Sie nicht undankbar, junge Dame!”, pflegte sie der Ältere dann zu schelten.

„Freuen Sie sich doch, daß Sie inzwischen viel berühmter als wir beide sind, auf die die Welt, wie ich fürchte, inzwischen vergessen hat!”

Dann pflegte er sie streng anzuschauen und zwei dicke Romane vor sie hinzulegen und ihr den Auftrag zu erteilen „Die Strudlhofstiege” und die „Dämonen” zu lesen, um die Welt von gestern zu verstehen und die Stadt aus der sie beide kamen, kennenzulernen.

„Quälen Sie das Kind doch nicht so!”, pflegte sich dann Stefan einzumischen und sich bei ihr zu erkundigen, ob sie jemals in Wien gewesen war? Worauf sie bedauernd den Kopf schütteln mußte. War sie nicht, zumindest konnte sie sich nicht erinnern. Sie war 1929 in Frankfurt am Main geboren worden und als dort die Nazis kamen, waren die Eltern mit ihr und Margot nach Amsterdam emigriert, wo sie sich bald in der Prinsengracht verstecken mußte, um ein dreiviertel Jahr nach ihrer Entdeckung im KZ Bergen-Belsen an Typhus zu versterben. Das war lange her. Inzwischen hatte sich die Welt verändert und sie konnte eigentlich, wie die Freunde rieten, ihr Tagebuch weiterführen. Stefan hatte ihr ein solches auch in die Hand gedrückt.

„Probieren Sie es doch, Fräulein Anne! Schreiben Sie weiter, weil Sie inzwischen eine viel berühmtere Schriftstellerin, als wir beide sind!” und Heimito war, was selten vorkam, einverstanden und hatte genickt.

„Tun Sie das!”, hatte er bestätigt und seine Romane zu dem wachsblauen Heft gelegt, das immer noch leer war. Denn was sollte sie von ihrem Wolkendasein hineinschreiben? Sie erlebte hier nichts. Blieb sie doch immer knapp sechzehn, ein kleines dünnes, dunkelhaariges Ding, obwohl sie sich fast jeden Morgen mit den beiden im „Wolkencafe” traf, sich von ihnen die Hand küssen und die Lage der Welt erklären ließ, die sich da unten abspielte und die sie auch nicht verstand.

„Haben Sie schon in der „Strudlhofstiege” gelesen?”, pflegte Heimito sie zu fragen, während Stefan mißbilligend den Kopf schüttelte und „Drängen Sie die Kleine nicht, lieber Freund! Sie ist ein junges Ding und wird sich für den ersten Straßenbahnunfall der Literaturgeschichte, in einer Stadt, in der sie nie gewesen ist, nicht interessieren!”

Dann sah er sie besorgt an und schüttelte den Kopf, wenn sie ihm gestehen mußte, daß sie wieder nichts in sein Heft geschrieben hatte. So würde es auch heute sein, dachte sie seufzend und schlug es zu, um sich auf den Weg zu machen, weil sie pünktlich in dem Cafe erscheinen wollte, wo die beiden sie sicher schon erwarteten. Zumindest diesbezüglich wollte sie sie nicht enttäuschen und Heimito konnte sie auch verraten, daß sie bei seinem Roman schon auf Seite hundert war, wie sie auch Stefans „Welt von Gestern” gelesen hatte. Nur selber wollte ihr nichts einfallen. Was aber vielleicht ganz natürlich war, denn die beiden hatten, seit sie sich auf der Wolke befanden, auch nichts mehr geschrieben. Wahrscheinlich ging das hier nicht. Das war es und deshalb brauchte sie sich nicht zu kränken und nicht genieren, sondern sollte die Dinge nehmen, wie sie eben waren. Etwas anderes blieb ihr ohnehin nicht über, dachte sie und öffnete die Tür zu dem Cafe, das, wie, die beiden ihr versicherten, genau, wie ein berühmtes Wiener Kaffeehaus aussehen würde.

„Wie, das Cafe Central, Fräulein Anne, aber daran haben Sie auch keine Erinnerung!”, pflegten sie ihr zu erklären und den Kopf zu schütteln, als sie sich erkundigte, ob sie dort gefrühstückt hatten?

„Nicht zusammen, Fräulein Anne, denn eigentlich haben wir uns in Wien genausowenig gekannt, wie wir Sie nicht kennenlernen durften!”, hatten sie geantwortet und sie merkte ein wenig schuldbewußt, daß die beiden schon in einer der Nischen saßen, je eine Schale Kaffee vor sich stehen hatten und ihr zunickten.

„Uje, habe ich Sie warten lassen?”, fragte sie und fügte zu ihrer Entschuldigung hinzu, daß sie, wie jeden Morgen in ihr Tagebuch geschaut hatte, um nach ihrer Empfehlung etwas aufzuschreiben, ihr aber doch nichts eingefallen war.

„Aber über unser Frühstück werde ich schreiben! Gleich, wenn wir uns verabschiedet haben, werde ich das tun!”, fügte sie pflichtbewußt hinzu, um sich zu erinnern, daß sie das auch gestern und vorgestern versprochen hatte und nicht dazu gekommen war.

„Grämen Sie sich nicht, Fräulein Anne!”, sagte Heimito jetzt und rückte ihr einen der geflochtenen Sessel zurecht, die, wie sie wußte, echte „Thonet-Stühle” waren.

„So sind die Gesetze auf unserem Himmelsbogen! Wir sind hier gefangen und können uns nicht verändern, genau, wie ich meinen „Roman Nummer sieben” nicht beenden konnte, will es Ihnen nicht gelingen und bei Stefan trifft das gleichfalls zu!”

Sie lachte erleichtert auf, bestellte bei dem Kellner Franz wie üblich eine Tasse heiße Schokolade, der, wie ebenfalls gewohnt „Bitte gleich, bitte sehr, junge Dame!”, dienerte, etwas, an das sie sich auch gewöhnt hatte und blickte dann Stefan an, wie, um sich nach seiner Zustimmung zu erkundigen, der den Kopf schüttelte und „Ganz haben Sie nicht recht, lieber Freund! Ein wenig irren Sie sich hier und haben unsere junge Freundin nicht richtig informiert! Denn wir sind zwar in dem berühmten Cafe nicht wirklich zusammengetroffen, werden das aber, wie ich eben sehen konnte, da unten bald tun und damit genauso gefallen, wie den Gymnasiasten heute Annes Tagebuch gefällt!”

„Wie ist das gemeint?”, fragte sie ein wenig ratlos und rührte in der weißen hohen Tasse, die der Kellner vor sie abgestellt hatte.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht!”

„Machen Sie sich keine Sorgen!”, beruhigte Heimito sie sogleich.

„Unser Freund hat ein bißchen aus der Schule geplaudert, beziehungsweise mit dem Fernglas nach unten geblickt und ist da in einem Turnsaal gelandet, wo zwei junge Schauspieler, sich mit unseren Namen in dem berühmten Kaffeehaus aufhalten und behaupten, daß wir uns dort getroffen haben und noch dazu an jenen berühmten zwölften Februar, der Ihnen, liebes Kind, auch nichts sagen wird, denn damals waren Sie noch im Kindergartenalter und haben sich bestimmt nicht für die Weltlage interessiert!”

„Wahrscheinlich!”, sagte sie immer noch verständnislos und erkundigte sich, ob die Schauspieler ein Stück über sie beide aufführen würden?

„Genauso eines, wie das über uns, Pim, die Mutter, Margot und die anderen Hinterhausbewohner, das, wie, Sie mir erklärt haben, so berühmt geworden ist?”, fragte sie und Heimito nickte grimmig.

„So ähnlich, obwohl das Stück von zwei Studenten geprobt wird und geschrieben hat es eine junge Frau, deren Eltern aus Teheran stammen, die von den Bürgerkämpfen von 1934 wahrscheinlich auch keine Ahnung hat!”

„Und die Tatsachen auch noch verdreht!”, mischte sich Stefan nun verärgert ein.

„Denn an jenem zwölften Februar war ich zwar in Wien, habe aber von den Unruhen nicht viel mitbekommen und Österreich auch bald darauf verlassen! Während Sie, mein lieber Freund, schon damals bei den Nazis waren, die mir, unserer jungen Freundin und so vielen anderen, das Leben nahmen! Aber die Phantasie ist frei und die jungen Leute machen sich ihre eigenen Vorstellungen von der Welt und der Vergangenheit! Das war bei Ihrer „Strudlhofstiege” und den „Dämonen”, an denen Sie schon damals schrieben und an die Ostmark anhängen wollten, auch nicht anders! Also seien wir nicht engstirnig, sondern schauen zu, was sich die junge Dame, die heute in der schönen Wienerstadt lebt, obwohl ihre Familie aus Persien kommt, sich über uns ausgedacht hat und wir werden, wenn ich recht verstanden habe, auch von zwei jungen Leuten dargestellt, deren Wiegen an anderen Orten standen! Es ist also spannend zuzusehen und wird auch unsere junge Freundin interessieren!”, behauptete er und griff wieder nach ihrer Hand, um einen Kuß darauf zu drücken. Sie war einverstanden und nickte ihm zu, obwohl sie noch immer nicht sehr viel verstand.