Wie süß schmeckt Schokolade

Ein Wiener Stadtroman

Einen Tag lang sind sie unabhängig voneinander in Wien unterwegs, irgendwo zwischen Cafe Sperl und Donaukanal, Hauptbücherei und Radiokulturhaus, eine Handvoll Männer und Frauen. Ihre Wege kreuzen sich, zufällige Verknüpfungen ergeben sich, manche bleiben für kurze Zeit zusammen, dann trennen sich ihre Wege wieder. Aber etwas hat sich verändert in der Zeit zwischen acht Uhr morgens und Mitternacht an diesem einen Spätherbsttag in Wien.

Es sind nicht die Durchschnittsmenschen, die Eva Jancak in ihrem Wiener Stadtroman einander begegnen läßt, sondern ein wenig außerhalb stehende Menschen, freiwillig oder unfreiwillig, skurrile Typen möchte man meinen. Und doch wirken sie auf uns so vertraut und bekannt, die Lebenskünstlerin, der gestresste Psychotherapeut, der Stalker, die Germanistin aus Berlin, der alte Buchhändler, der Philosoph.

Judith Gruber-Rizy

9. November

8 Uhr, Westbahnhof

Steffi Katzengraber war an diesem Morgen um Punkt acht am Bahnsteig zwei mit dem Intercity-Zug Johannes Brahms auf dem Westbahnhof angekommen.

Von Berlin war sie nach Wien gefahren, um die letzte Phase ihrer durch die EU geförderten Diplomarbeit einzuleiten und einen Tag lang die Wiener Antiquariatsbuchhandlungen sowie die öffentlichen Haupt- und Nebenbüchereien einzusehen, um herausbekommen, wie weit die Exemplare der Büchergilde Gutenberg, die in den Dreißiger- und Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zu einer geistigen Befreiung der Arbeiterhaushalte führen hatten sollen, dort noch aufzufinden waren.

So war sie inzwischen ausgestiegen, fuhr nun hoffnungsvoll mit der Rolltreppe in die untere Bahnhofshalle und den sich anschließenden U-Bahnbereich, um den für ihr Vorhaben notwendigen Tagesfahrschein an einer der Verkaufsstellen der Wiener Linien zu erwerben.

Den Aktenkoffer trug sie in der Hand, die Vorfreude, die unbekannte Stadt kennenzulernen, hatte sie im Herzen.

In der Jackentasche steckten ein Stadtplan und die Liste der Wiener Antiquariatsbuchhandlungen, die Adresse der Hauptbücherei und noch einiger anderer Altwarengeschäfte, die ihr ihre Freundin Sandra und der Berliner Professer mitgegeben hatten.

Neugierig auf das kommende Geschehen schob sie sich durch die menschenvolle U-Bahnhalle. Kontrollierende Polizisten, hastig zur Arbeit eilende Passanten, ein paar bettelnde Migrantenfrauen und wohl arbeits- und perspektivlose Jugendliche, die sich trotz des frühen Morgens schon an einer Bierdose festklammern mußten, gab es zu beobachten.

Das war der Hauch von Wien, der die angekommene, sich noch ein wenig unsicher fühlende Fremde empfing.

„Zeit für ein Frühstück ist es auch!”, dachte Steffi Katzengraber ein wenig später, markierte den soeben erstandenen Fahrschein an einem der bereitstehenden Automaten und zog den Stadtplan aus der Tasche, um sich in der für sie unbekannten Stadt ein wenig zu orientieren.

8 Uhr 15, Margaretenstraße 54

„Ein guter Tag beginnt mit --”, dachten Augusta Augustins kleine grauen Zellen, nachdem sie aus dem Bett geklettert war. Aus alter Gewohnheit hatte der Wecker geläutet und aus eben dieser saß sie eine Viertelstunde später vor dem Küchentisch und begann sich Butter auf die schon etwas altbackene Weißbrotscheibe zu streichen.

Beginnt womit? Was beginnt? Das schöne neue Arbeitsleben, der Eintritt in die wunderbare Wirtschaftswelt?

Augusta Augustin, die vor kurzem fünfunddreißig Jahre alt gewordene Vollakademikerin mit vor sieben Jahren abgeschlossenem Pädagogikstudium und hauptberufliche Lebenskünstlerin wußte die Antwort nicht.

Fühlte sie sich doch von alldem ausgeschlossen und wußte so nicht einmal, was sie sich wünschen sollte, denn außer den Radioapparat aufzudrehen und das Morgenjournal anzuhören, fiel ihr nichts Rechtes ein.

Das tat sie also, dann atmete sie durch und griff zur Kanne mit dem heißen Wasser, um den Inhalt auf eine Portion Löscafe zu leeren und sodann mit soviel Milch aufzugießen, wie sich noch in der schon abgelaufenen Tetrapackung befand.

Ein guter Tag beginnt mit --?

Ja richtig, mit einem karrierefördernden Arbeitsplatz und dem Sprung hinauf auf die Karriereleiter zu Ruhm, Ansehen und Erfolg.

Das eben, was dem Zeitgeist der Erfolgreichen entspricht und sich auch in den entsprechenden Magazinen nachlesen läßt. Bei Augusta Augustin, der fünfunddreißigjährigen Pädagogin traf es nicht zu. Das nicht und auch nichts anderes. Hatte sie doch nichts anzubieten, zu erhoffen und zu träumen, denn sie befand sich am Rande der Gesellschaft und war, da sie mit ihrem abgeschlossenem Studium auch vor sieben Jahren keine Anstellung gefunden hatte und zur Lehrerin nicht wirklich geeignet war, nicht einmal dem Arbeitsamt gemeldet und auch dem Sozialamt der MA 12, 13, 14 oder 15 war sie unbekannt.

Nannte sie sich neben Dr. Phil in ihrem Paß doch Lebenskünstlerin und hatte sich in dieser Profession am Rande der Gesellschaft, so gut es eben ging, dem Motto ”Immer daneben, ist auch dabei!,” entsprechend einzurichten versucht.

Und so tat sie einen tiefen Schluck aus dem schon abgeschlagenen Kaffeehäferl, das sie vor zehn Jahren mit der kleinen Alteigentumswohnung von ihrer Großmutter geerbt hatte. Genoß die heiße Flüssigkeit, um sodann die Darbo-Preiselbeer-Portionsprobe in die Hand zu nehmen, die sie kürzlich aus einer Mc Donald Filiale mitgenommen hatte, mengte auf diese Art und Weise dem schönen Morgen, um viertel acht, also einen Hauch von Luxus bei.

Ein guter Tag beginnt mit Preiselbeermarmelade auf einem altbackenen Butterbrot, da hatte sie es schon, das war ihre erste beinahe philosophische Erkenntnis, die sie heute gewann. Augusta Augustin, die Lebenskünstlerin, schon der Name, den sie einst von ihren Eltern erbte, kann ein gutes Omen sein.

„O du lieber Augustin!” oder die solcherart feministisch abgewandelte Augustine beim Streichkonzert vor sich hingesummt.

„Lustig gelebt und lustig gestorben, heißt dem Tod die Rechnung verdorben!”

Genau das hatte sie auch vor, war sie dabei mit Lust und Wonne auszuleben.

„Aus der Not eine wunderschöne Tugend machen!”, dachte sie also solcherart vergnügt, beendete ihr Pfeif- und Streichkonzert und begann sich dem Frühstücksluxus hinzugeben, mit dem, wie sie gerade beschlossen hatte, ihr guter Tag beginnen würde.

Dazu Radio hören. Da sie sich von der Rundfunkgebühr befreien hatte lassen, konnte sie sich diesen Luxus leisten und hörte zwischen der Süße der herben Qualitätsmarmelade die allgegenwärtige Stimme des Medienzars, Großverlegers und christlich konservativen Politikers Eugen Kundrich, der die Morgennachrichten dominierte, in dem er sich über den Mißbrauch, den die sozialen Trittbrettfahrer und Steuergeldschmarotzer dem Staat und Steuerzahler zufügten, empörte und seinen Unmut auch mehr als deutlich Ausdruck gab.

Wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, hörte Augusta Augustin seine allgegenwärtige Meinungsäußerung und weil sie das schon so oft getan hatte, hörte sie auch nicht mehr richtig hin.

Denn natürlich war sie davon betroffen. War eine wie sie damit gemeint.

Sie wollte den neuen Tag aber nicht mit den mahnenden Worten eines Medienzars beginnen. Hatte ihr ihre vor fünf Jahren verstorbene Mutter, außer den vielsagenden Namen, doch soviel Geld vererbt, daß sie mit dem ihr eigenen Organisationstalent, die Lebenshaltungskosten bezahlen konnte. Brot, Milch und Butter kaufen und gelegentlich, wenn es hochkam, so wie neulich zum Geburtstag, auch einen Hamburger und eine kleine Portion Pommes frites in eben diesem Mc Donald Restaurant, da sie mit ihrem Pädagogikstudium keinen Job gefunden hatte und zur Lehrerin weder geeignet noch ausgebildet war.

Zur Lebenskünstlerin aber schon, also würde sie Eugen Kundrichs energische Rede nicht persönlich nehmen und den Radioapparat auch genauso energisch abschalten, um sich ihren Butterbrot- und Löscafefrühstück ohne schlechten Gewissen hinzugeben, wenn sie nicht gerade ohnehin beendet wäre, denn den sich daranschließenden Kulturbericht hörte sie viel lieber an.

Er sollte ihr auch Auskunft geben, wie sie den neuen Tag verbringen konnte, wurde doch von einem „Robert Musil-Symposium” berichtet, das im Radio-Kultur-Cafe stattfinden sollte und da die Teilnahme an diesem auch schon auf ihren Kalender stand, hatte sie nun alles was sie brauchte.

„Ein schöner Tag beginnt mit einem guten Frühstück! Lustig gelebt ist lustig gestorben!”

Das nein, das nicht, auch an einem neunten November war sie keine Selbstmordkandidatin, nachdem sie vor drei Wochen erst fünfunddreißig Jahre alt geworden war, war sie das natürlich nicht, dachte sie nun fast erschrocken und brach ihre melancholischen Gedankengänge ab, um stattdessen wieder „Immer daneben ist auch dabei!”, vor sich hin zu murmeln, kräftig in die Weißbrotscheibe beißen und den herben Geschmack der süßen Preiselbeermarmelade auf den Lippen spüren. Der Kaffe war heiß und schmeckte gut.


Alfred Nagl
Last modified: Sat Feb 3 11:33:11 CET 2007