Magdalena Kirchberg schreibt einen Roman

Die fünfundsechzigjährige Physiotherapeutin Magdalena Kirchberg stellt an ihrem ersten Pensionstag fest, daß sie, weil ihr ihre Patienten fehlen, ihre Tochter Magda mit Hund und Freund in Graz als Flüchtlingsbetreuerin lebt und sie außer ihrem Nachbarn Momo und ihrer Supermarktkasserierin Nastasja Stankic kaum Kontakte nach außen hat, in ein tiefes Pensionloch fallen könnte, so daß sie, um eine Depressison zu vermeiden, als sie am Abend vom Literaturhaus nach Hause geht, an einer Kreuzung einen weißen BMW stehen sieht, in dem sich drei Personen, zwei Männer und eine junge Frau befinden, die sie an ihren Gynäkologen und die Hebamme erinnern, die ihr bei der Geburt ihrer Tochter Magda vor fünfunddreißig Jahren geholfen haben und an einen Psychiater erinnern, die der Stationsarzt damals zu ihr gerufen hat, beschließt, einen Roman darüber zu schreiben, weil sie das nach ihrer Matura eigentlich Schriftstellerin werden wollte, diesen Wunsch auf Anraten ihres Vaters aber alsbald aufgegeben hat.

Während sie das zu realisieren versucht, erzählt ihr ihr aus Afghanistan geflohener Nachbar Momo, der sich in Österreich als Heimhelfer ausbilden ließ, obwohl er eigentlich Medizin studieren wollte, von seiner an Alzheimer erkrankten Klientin Maria Mattuschek, einer erfolglosen Schriftstellerin, die ihre sozialkritischen Romane bisher selbst herausgegeben hat, jetzt aber von ihrer Nichte Ruth, als experimentelle Dichterin entdeckt wurde.

6.

„Schau, Tante Maria, das ist der Vertrag, den du nur zu unterschreiben brauchst! Dann wird dein Buch zu Weihnachten in einer tausend Stück Auflage erscheinen! Alle können es lesen und das ist doch das, was du immer haben wolltest und sehr unglücklich warst, daß du es bisher nicht erreichen konntest!”, hatte Ruth zu ihr gesagt und ihr ein Stück Papier hingeschoben. Ruth, die offenbar ihre Nichte und die Tochter ihrer verstorbenen Schwester Polly, die eigentlich Leopoldine hieß, war, wie ihr die braunhaarige Frau in den Jeans und der blauen Baumwollbluse beharrlich auf ihre gestellten und ungestellten Fragen zu erklären wußte und Momo, der kleine Araber, der seit einiger Zeit in der Früh und am Abend bei ihr auftauchte, sie aus dem Bett holte, ins Badezimmer trieb und ihr das Frühstück oder die belegten Brote für den Abend richtete, hatte das auch behauptet.

„Das ist Ihre Nichte Ruth, Frau Mattuschek, die mich bestellt hat, damit ich nach Ihnen sehe und Sie nicht den ganzen Tag alleine sind und sich Ihr Frühstück selber machen müssen!”, hatte er erklärt und hinzugefügt, daß er eigentlich Mohamed heiße. Mohamed Shalir, weil er aus Kabul, das in Afghanistan liegt, geflüchtet war. Aber so nicht genannt werden wollte, weil er Atheist wäre und sich für den langen Namen schämte.

„Der kleine Araber!”, nannte sie ihn fortan und hatte sich gewundert, daß die Frau, die ihre Nichte sein sollte, einen solchen für sie engagiert hatte. Genau betrachtet war das sehr fortschrittlich und sie hatte eigentlich nicht geglaubt, daß Ruth, die sie als kleines Mädchen mit langen Zöpfen in Erinnerung hatte, so fortschrittlich war. Aber was wußte man schon genau? Sie offensichtlich nicht mehr viel. Denn sie war sehr vergeßlich. Das hatte ihr der Arzt erklärt, der auch von ihrer Nichte Ruth bestellt worden war, der ihre Pflegestufe feststellen sollte, damit sie von ihrer Pension den Heimhelfer Momo bezahlen konnte, um nicht einsam zu sein und sich das Frühstück und das Abendessen selber machen zu müssen. Dann blieb noch das Mittagessen über, das wußte sie auch. Denn sie war nicht blöd und dement, wie dieser Gutachter festgestellt hatte, war sie ebenfalls nicht.

„Das Mittagessen wird vom „Roten Kreuz” geliefert und steht, wenn ich Sie besuchen komme, vor Ihrer Tür! Ich fülle es Ihnen in Töpfe, die sie nur in die Mikrowelle zu stellen brauchen und schon haben Sie eine warme Mahlzeit! Die Suppe und die Hauptspeise stellen Sie hinein! Den Kuchen oder den Pudding, den es als Nachspeise gibt, können Sie so verzehren!”, hatte Momo ihr erklärt und da sie nicht blöd war, hatte sie genickt und „Ist recht, mein kleiner Araber!”, gesagt und Matthes Enck, der Psychiater war und auch als Gutachter fungieren könnte, hatte sie gefragt, ob er glaube, daß sie blöd, dement oder eine „Alzheimer Disease” hätte, wie dieser Gutachter behauptet hatte.

„Du bist alt, Maria! Fünfundachtzig warst du, glaube ich, vor einigen Wochen, wenn auch drei Jahre jünger als ich und da neigen die jungen Kollegen dazu, das so zu nennen! Aber mach dir nichts daraus! Du bist und bleibst eine wunderschöne und gescheite Frau! Ich habe dich immer bewundert, daß du schreibst und soviel von Literatur verstehst!”

Da hatten sie es, ihre angebliche Nichte, die Tochter ihrer Schwester Polly, die schon vor Jahren an Keuchhusten oder Diphterie gestorben war. Oder nein, es war ein Schlaganfall gewesen, der sie mit Siebzig ereilte. Den Keuchhusten hatte sie mit Zwölf und die Diphterie mit Fünfzehn gehabt. Auch das hatten ihr Ruth, Momo oder vielleicht Matthes Enck erklärt, der ihr Freund aus Jugendtagen war, den sie, wenn sie sich nicht irrte, mit Zwanzig- oder Fünfundzwanzig bei einem Vortrag kennengelernt, aber aus irgendeinem Grund nicht geheiratet hatte und daher nur mit ihm befreundet war. Er kam sie jeden Tag besuchen, wenn ihr kleiner Araber sie verlassen hatte und blieb bei ihr, bis er wieder auftauchte. Also war sie nicht den ganzen Tag allein und der kleine Momo und ihre angebliche Nichte hatten sie belogen.

„Kann das sein, daß Ihre Erinnerung Ihnen einen Streich spielt?”, pflegten die Ärzte in einem solchen Fall zu fragen und sie hinters Licht zu führen, um eine Demenz oder eine erhöhte Pflegestufe festzustellen, was, wie die angebliche oder tatsächliche Nichte behauptete, gut für sie war.

„Dann geht sich das Honorar für Herrn Mohamed aus und du brauchst nicht den ganzen Tag allein zu bleiben, denn du weißt, liebe Tante, daß ich berufstätig und im Verlag beschäftigt bin. Der Franz, der Ralph und die Agnes halten mich auch in Trab!”

Ralph und Agnes, das wußte sie auch, waren die Kinder ihrer angeblichen Nichte. Also war sie Großtante. Ralph studierte Medizin und wollte Psychiater wie Matthes werden, während die Nichte nach ihrer Matura mit Germanistik beginnen wollte. „Also in deine Fußstapfen treten wird, liebe Tante, ist das nicht fein?”, hatte die angebliche Nichte weiter doziert und sie daran erinnert, daß sie das selbst getan hatte. Germanistik studiert, sowie Lehrerin gewesen und wackelte immer noch das Papier vor ihrer Nase hin und her.

„Was soll ich damit?”, fragte sie etwas unwirsch, weil sie sich darüber ärgerte, daß sie nicht wußte, was die angebliche Nichte wollte und warum sie unterschreiben sollte?

„Damit dein Buch gedruckt wird und du es zu Weihnachten der Familie und unseren Freunden schenken kannst! Eine Lesung wird es auch geben! Was ist Tante? Was machst du für ein ernstes Gesicht? Ich habe mir gedacht, daß du dich darüber freust, denn du wolltest doch immer für deine Bücher einen Verlag! Hast dich oft genug um Lesungen bemüht und warst traurig, wenn das nicht klappte, weil die Veranstalter nichts Selbstgemachtes wollten!”

Sie erinnerte sich und war also doch nicht so blöd, wie die Nichte dachte. Sie war bis zu ihrer Pensionierung nicht nur Lehrerin in einem Gymnasium gewesen, sondern auch Schriftstellerin. Hatte fünfundzwanzig Romane geschrieben, die alle auf ihrem Bücherregal standen.

„Ich habe doch schon fünfundzwanzig Bücher und außerdem mit dem Schreiben aufgehört!”, antwortete sie unwirsch, weil ihr eingefallen war, daß ihr letztes Buch schon vor einigen Jahren erschienen war.

„Da hast du aufgehört zu publizieren, weil dir das zu mühsam wurde und du mit deinen realistischen Romanen keinen Erfolg hattest! Aber in letzter Zeit hast du es dir angewöhnt, deine Träume aufzuschreiben, die sehr experimentell sind. Die habe ich gesammelt und meinem Chef gezeigt. Der war begeistert und einverstanden ein Buch daraus zu machen! Da ist der Vertrag! Du mußt nur unterschreiben! Alles andere besorge ich! Du hast zu Weihnachten dein Buch und kannst es den Kindern und auch deinen Nachbarn schenken! Was ist? Freust du dich nicht? Du warst doch immer so enttäuscht, daß es bei dir mit dem Literaturbetrieb nicht klappte! Jetzt ist es so weit, Doktor Schuster ist begeistert und du machst ein skeptisches Gesicht?”, drängte die angebliche Nichte und hielt ihr einen Füllhalter hin. Sie blieb aber vorsichtig und schüttelte den Kopf.

„Das möchte ich erst mit Matthes Enck besprechen! Du weißt, das ist der Psychiater und Freund aus meinen Jugendtagen, der mich, seit ich mich in Pension befinde, jeden Tag besuchen kommt, damit ich nicht allein und einsam bin, wenn der kleine Araber mich verlassen hat und du in deinem Verlag arbeitest oder deinen Franz und deine Kinder betreust!”, sagte sie und wunderte sich, daß die angebliche Nichte sie entsetzt anstarrte.

„Aber Dr. Enck ist doch vor fünfzehn Jahren gestorben, Tante Maria! Erinnerst du dich nicht, daß du auf seinem Begräbnis warst? Der kann dich nicht mehr besuchen und du kannst auch nichts mit ihm besprechen! Da hat dir dein Gedächtnis einen Streich gespielt! Du kannst den Vertrag aber auch so unterschreiben! Er ist in Ordnung! Da habe ich schon aufgepasst, daß alles stimmt! Du kannst mir vertrauen und hast dann ein richtiges Buch in einem richtigen Verlag! Mit den Romanen, die du früher geschrieben hast, war das nicht möglich, denn wir sind ein experimenteller Verlag und Dr. Schuster, kann ich dir sagen, war sehr begeistert, als er deine „Traumsequenzen” las und hat mich „Alle Achtung, Ruth, deine Tante ist ein Talent! Hat sie wirklich erst mit über Achtzig so zu schreiben angefangen?”, gefragt.

”Papperlapapp!”, hatte sie gerufen, den Kopf geschüttelt und das Papier weggeschoben.

„Was redest du da? Matthes Enck, der mich jeden Tag besuchen kommt, ist gestorben? Das ist ein Irrtum deines und nicht meines Gedächtnisses, liebe Nichte, wenn du überhaupt eine solche bist! Meine Schwester Polly, deine angebliche Mutter ist gestorben, das weiß ich, weil ich auf ihren Begräbnis war! Aber ob sie eine Tochter hatte, die Ruth heißt und ob du die bist, bin ich mir nicht sicher und möchte auch das erst gerne Matthes fragen, wenn er wieder kommt! Und überhaupt, was soll ich mit experimenteller Literatur? Die ist mir immer auf die Nerven gegangen! Daß die Leute so etwas Unverständliches lesen wollen, habe ich nie verstanden und richtig, du hast auch Germanistik studiert und bist als Lektorin zu diesem Verlag, der so unverständliches Zeug verlegt, gegangen! Daran kann ich mich erinnern, daß das die Polly mir erzählte, bevor sie gestorben ist! Ich habe mein Leben lang realistisch geschrieben und werde das auch weiter tun, weil das in Zeiten wie diesen, wo die Leute wieder gegen Ausländer hetzen und radikale Parteien wählen, wie ich mit dem Matthes immer im Fernsehen sehe, besonders wichtig ist und schreibe kein experimentelles Zeug! Wenn du mir also nichts anderes anzubieten hast--!”, sagte sie und schüttelte beharrlich den Kopf, als die Nichte ihr den Papierfetzen wieder hinschob.

„Laß mich mit diesen Unsinn in Ruhe, weil ich sonst zu schreien anfange, wenn du nicht damit aufhörst!”, drohte sie ihr an und merkte mit Befriedigung, daß die angebliche oder tatsächliche Nichte nachgab und versöhnlich „Wenn du meinst, Tante Maria! Du kannst es dir noch überlegen und mit deinem Jugendfreund so besprechen, obwohl der wirklich fast zeitgleich mit der Mama vor fünfzehn Jahren gestorben ist und du auf beiden Begräbnissen warst! Aber ich will dich nicht drängen, sondern mache jetzt die Jause! Schau, ich habe dir ein Stück Birnenkuchen mitgebracht, den ich, obwohl ich kaum Zeit habe, extra für dich gebacken habe, weil ich weiß, daß du ihn sehr gerne magst!”, einwarf.