Vor dem Frühstück kennt dich keiner

Morgens um Neun erschien im Winter regelmäßig die Obdachlose Dorothea Wewerka vor der öffentlichen Bücherei und begehrte Einlass, der ihr in der Regel auch gewährt wurde.

Frau Wewerka pflegte dann ein wenig zu lesen, wärmte sich auf und wurde meistens auch mit heißem Kaffee bewirtet. Eines eiskalten Wintertages fiel jedoch in dem öffentlichen Gebäude die Heizung aus und die Bibliothek blieb geschlossen. Mehrmals kehrte Frau Wewerka an jenem Tag zur Bücherei zurück und rüttelte am verschlossenen Eingangstor. Nach ihrem letzten vergeblichen Versuch kauerte sie sich in einem Winkel des Portals zusammen, um sich ein wenig auszurasten. Aber bald schon fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nie wieder erwachen sollte: Als man sie am nächsten Morgen fand, war sie schon ganz steif gefroren. Und seither geistert das Bibliotheksgespenst Dorothea Wewerka jeden Winter durch die Bücherei. Manch ahnungsloser Besucher glaubt ja, es wäre der raue Winterwind, der da an der Eingangstüre rüttelt — die Angestellten der Bibliothek jedoch wissen es freilich besser.

Richard Weihs

28.

Die Mutter hatte ihn auch heute wieder aufgeweckt, als er in der besten Tiefschlafphase war und wild und unerbittlich an seiner Schulter gerüttelt.

„Aufstehen, Fabi!”, hatte sie gerufen und ihn dabei besorgt angesehen.

„Was ist, Mama?”, hatte er gefragt und am Wecker gesehen, daß es erst halb acht war. Viel zu früh, für einen, der erst um halb zwei von der Aktion zurückgekommen war. Die Vorlesung begann erst in zwei Stunden, also war kein Grund für solche Eile, dachte er, versuchte sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Die Mutter blieb aber beharrlich und sagte etwas, daß der Vater in der Küche auf ihn warte und der Vater von Roman angerufen und ihn sprechen habe wollen.

„Aha!”, daher wehte der Wind. Romans Vater war Polizeijurist in Graz. Also hatte es seine linke Schwester nicht lassen können und ihn vernadert. Was aber hatte das mit Roman zu tun? Sie kannte Roman nicht und hatte ihn nicht gesehen, denn sie war erst in die Galerie gekommen, als die Freunde schon der Bierstube saßen.

„Ich komme, Mama, mach dir keine Sorgen!”, sagte er daher, als er die Mutter fragen hörte, ob er mit dem Anschlag auf diese Galerie zu tun habe?

„Das war kein Anschlag, sondern eine Kunstaktion! Kunst gegen Kunst, die zweiundsechzig abgeschlagenen Köpfe dieser serbischen Künstlerin haben wir ein bißchen mit Scheiße beworfen! Daß dabei ein Sektglas zu Bruch ging und die Künstlerin am Auge traf, konnten wir nicht ahnen und haben es nicht verursacht! Die Scheiße, die wir in appetitliche Nylonsäckchen verpackten, Mama, das kannst du mir glauben, war ganz weich, daran konnte man sich nicht verletzten! Es hat nur etwas gestunken, aber das ist harmlos und tut nicht weh!”

„Man kann aber eine allergische Reaktion davon bekommen, wenn man so sensibel ist, wie diese Künstler sind und das ist bei dieser Serbin passiert!”, hörte er jetzt die Stimme seines Vaters, der ebenfalls das Zimmer betreten hatte.

„Verdammte Scheiße!”, dachte Fabian und war vollends wachgeworden. Jetzt würde er sich eine Standpauke anhören müssen.

„Romans Vater hat dich angerufen?”, fragte er.

„So ist es!”, bestätigte dieser, nickte und sah eigentlich nicht so zornig aus.

„Du mußt aufpassen, Junior, damit du nicht in Schwierigkeiten gerätst!”, sagte er nur.

„Du bist am Tatort gesehen worden! Eine offenbar linke Medizinstudentin, die eine Freundin dieser Künstlerin ist, hat deinen Namen und ein SMS von dir angezeigt, in dem du sie eingeladen hast, an dieser Aktion teilzunehmen! Wie kannst du nur so unvorsichtig sein und nicht aufpassen, wem du von deinen Aktionen, die ich an sich teile, du aber natürlich vorsichtig sein mußt und die Gesetze nicht verletzen darfst, erzählst! Zum Glück ist Romans Vater Polizeijurist und hat von der Sache gleich erfahren! Er wird versuchen euch zu decken und das Ganze als dummen Jungenstreich hinzustellen! Ihr habt es als Kunstaktion dargestellt! Das ist sehr gut und Scheiße ist an sich auch nicht körperverletzend, nur sehr übelriechend, da hast du schon recht! Also Sachbeschädigung! Ihr werdet Schadenersatz leisten, beziehungsweise, den Schaden wieder gut machen, also putzen müssen, damit es zu keiner Anzeige kommt, hat Theo mir gesagt!”

„Putzen?”, fragte Fabian und sah seinen Vater nicht sehr erfreut an, da er sich vorstellen konnte, wie unangenehm das sein würde, hatten sie auch schon gestern mit Gummihandschuhen in die Scheiße gegriffen, um sie in die Säckchen zu packen und jetzt sollten sie das wegräumen?

„Wie kannst du nur?”, rief seine Mutter und tat entsetzt. Dabei schaute sie in ihr Handy, aus dem sie sich offenbar die entsprechenden Informationen holte und schüttelte den Kopf.

„Fabi, Fabi!”, jammerte sie.

„Ich will eigentlich nicht, daß du dich an solchen Aktionen beteiligst! Scheiße in Päckchen auf eine Kunstaktion schmeißen! Und die soll sogar ausgezeichnet sein, hat mir Tamara im Büro vorgeschwärmt, so daß ich mir schon überlegte, ob ich nicht am Wochenende mit euch hinfahren und sie mir ansehen soll!”

„Das kannst du vergessen, Helene!”, widersprach der Vater.

„Zweiundsechzig abgeschnittene Köpfe, die auf Rassismusopfer hinweisen sollen, sind für mich genausowenig eine Kunstaktion, wie, daß Fabi und seine Freunde mit Scheiße darauf schmeißen! Das ist für mich ein dummer Jungenstreich! Das sieht Theo zum Glück sehr ähnlich und das hat er auch seinem Sohn so gesagt und wir können auch überlegen, ob das Wegräumen nicht etwas für diese Asylwerber ist! Die wollen sich doch sozial betätigen und sollen beschäftigt werden, damit ihnen nicht langweilig wird! Also ich spreche mit Theo noch einmal darüber und du, mein Junge, passt in Zukunft besser auf und jetzt ab in die Vorlesung und keine weiteren Spompanadeln mehr! Wer ist übrigens dieses Mädchen, das dich angezeigt hat? Wie bist du dazu gekommen, sie einzuladen sich an der Aktion zu beteiligen?”, fragte er noch weiter und die Mutter setzte hinzu, daß sie das auch interessieren würde.

„Sie heißt Sophie Prohaska!”, antworte er gehorsam.

„Ich habe sie in der Hauptbücherei kennengelernt, als ich für mein Referat über Prinz Eugen recherchierte! Sie ist Medizinstudentin, hat eine Schwester, die dort Bibliothekarin ist und die üblichen Mulitkultisticker auf ihrer Jacke. Aber sonst ist sie sehr nett und da habe ich gedacht — !”, sagte er und brach ab.

„Laß ihn, Albert!”, sagte jetzt die Mutter, die sich darüber zu freuen schien, daß er ein Mädchen kennengelernt hatte.

„Ich finde es viel besser, wenn Fabi sich für Mädchen, auch wenn sie links, grün oder alternativ sind, interessiert! Denn das bin ich auch, wenn ich euch daran erinnern darf, als immer mit der Politik und diesen blöden Aktionen! Fabian sollte eigentlich als Strafe für diesen Blödsinn mit ihr am Wochenende nach Graz fahren und sich die Performance ansehen, statt jetzt unschuldige Asylwerber dorthin zu schicken, damit sie die Scheiße, die mein Herr Sohn und seine Freunde angerichtet haben, wegputzen!”