Fräulein Nos Nachtcafe

Der Allgemeinmediziner Ulrich Blumenbach hat nach dem Tod seiner Mutter eine Psychose durchgemacht. Infolgedessen wurde er von seiner Freundin Anna verlassen und hat seine Praxis verloren.

In dieser Situation lernt er in einem Nachtcafe nicht nur die Schauspielschülerin Nolantha kennen, die dort als Servierein tätig ist, sondern kann auch einer ehemaligen Patientin aus einer Krise helfen.

1.

Ulrich Blumenbach war, als er die Ärztekammer verließ, so in seine Gedanken vertieft, daß er beinahe die Stiegen hinuntergefallen, beziehungsweise mit dem jüngeren Kollegen, der gerade das Gebäude betreten hatte, zusammengestoßen wäre.

„Nimm dich zusammen Uli!”, mahnte er sich selbst energisch und schüttelte den Kopf.

„Reiß dich zusammen und zeige Haltung, Sohn!”, hatte seine Mutter immer gesagt, als er Kind gewesen war. Seine Mutter Anna, die vor fast drei Jahren, achtundachtzigjährig in einem Altersheim verstorben war, während ihn seine Freundin Anna, zwei Jahre jünger als er und Anästhesistin im Wilhelminenspital, bei ihrem letzten Besuch auf der Station 6A verlegen angesehen und „Du mußt verstehen, lieber Uli und sei mir bitte, bitte nicht böse, aber ich halte das nicht aus! Ich glaube, ich muß mich von dir trennen, weil ich sonst wahnsinnig werde und nicht mehr arbeiten kann! Ich weiß, du kannst nichts dafür und eine Psychose ist genauso eine Krankheit, wie ein Darmverschluß oder ein Knochenbruch!”, vor sich hingestammelt hatte und er hatte, konnte er sich erinnern, an seine Mutter Anna und ihre Worte von der Haltung gedacht, die sie immer angewendet hatte, wenn der kleine Ulrich sie in ihren Augen verloren hatte, was, wie er sich erinnern konnte, nicht oft geschehen war. War er doch ein angepasstes Kind gewesen. Ein Musterschüler und Stolz der Mutter. Klassenbester ohne sich besonders anzustrengen. Das Medizinstudium in Rekordzeit absolviert. Praktischer Arzt im Bobo-Bezirk Neubau und dann mit dreiundvierzig Jahren, eigentlich zu alt und untypisch für einen Erstanfall, wie ihn, die ihn behandelnde Kollegin auf der Station 6A vorsichtig zugeflüstert hatte, in eine Psychose hineingeglitten oder vielleicht doch nicht so untypisch. War es doch kurz nach dem Tod der Mutter geschehen und war er infolgedessen ein Mutterkind? Ein Muttersöhnchen, das ihr Hinscheiden nicht verkraftet hatte? Seine Freundin Anna, die Anästhesistin, hatte das, wie sie ihm gestanden hatte, vermutet, seine Psychose nicht ausgehalten und war infolgedessen immer seltener auf Besuch gekommen und als er von der Reha zurückgekehrt war, hatte er die ausgebaute Dachwohnung, die ebenfalls im siebenten Bezirk, in der Nähe der Neubaugasse lag, leer vorgefunden. Das Vögelchen Anna war ausgeflogen. Hatte ihn verlassen, wie sie ihm in einem Brief mitgeteilt hatte. Auf einen rosaroten Briefbogen hingekritzelt, der ausgerechnet auf der Kündigung seines Praxisvertrages, den er von der Kassa bekommen hatte, lag. Womit drei Säulen seines Lebens zusammengebrochen waren. Die Mutter gestorben, die Freundin hatte ihn verlassen, die Krankenkasse seinen Vertrag gekündigt und die Ärztekammer hatte ihn zu sich bestellt, um mit ihm seine weitere Lebensplanung zu besprechen.

\begin{sloppypar} „Wollen Sie nicht in Pension gehen?”, hatte der freundliche Kollege mit scheinbar wohlwollender Miene zu ihm gesagt. \end{sloppypar}

„Überlegen Sie es sich am besten! Noch befinden Sie sich in Krankenstand und in Rehabilitation! Denken Sie in Ruhe darüber nach, ob das nicht zu Ihrem Besten wäre? Ich kann mir vorstellen, wie es in Ihnen aussieht! Ich will auch nichts überstürzen und Sie zu nichts drängen! Überlegen Sie es sich in aller Ruhe, denn mit einer Psychose ist nicht zu spaßen, wie Sie als Allgemeinmediziner sicher wissen!”

Genau das hatte auch Anna zu ihm gesagt, bevor sie ihn verlassen hatte. Die Krankenkasse hatte es ein wenig förmlicher ausgedrückt. Daß er Ruhe und Erholung brauche und sie deshalb den Vertrag kündigen würden.

„Zu unserem Bedauern sehen wir im Sinne Ihrer Patienten keine andere Möglichkeit und wünschen Ihnen trotzdem für Ihre Zukunft alles Gute!”, hatten sie geheuchelt und er hatte keine Wahl gehabt, als dem Ärztekammerfunktionär zu versprechen, es sich zu überlegen.

„Wir legen Ihnen keine Steine in den Weg! Wir wollen Sie stattdessen unterstützen! Denken Sie in Ruhe darüber nach und versuchen Sie sich zu erholen! Gehen Sie auf Reisen, Herr Kollege, genießen Sie ihr Leben, suchen Sie nach einem Hobby!” oder, wie der Unsinn lautete, den er selber noch vor zwei Jahren oder waren es schon drei, seinen Patienten eingeredet hatte, wenn sie mit einem Burn-Out zu ihm gekommen waren. Wie sich die Dinge gleichen. Die Patienten hatte auch nicht gewußt, was sie antworten sollten und nur herausgestammelt, daß sie es sich überlegen würden und nun hatte er in verwirrtem Zustand, die Ärztekammerzentrale verlassen und taumelte auf die Straße, so daß er aufpassen mußte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und erneut mit einem Passanten oder einem ehemaligen, beziehungsweise zukünftigen Kollegen, zusammenzustoßen und von ihm für einen Alkoholiker gehalten zu werden.

„Reißen Sie sich zusammen, Herr Kollege!”

Das hatte der Ärztekammerfunktionär nicht gesagt. Da war er schon zu diplomatisch oder zu psychologisch gebildet, um solchen Unsinn daher zu schwatzen und sich eine Blöße zu geben. Gemeint hatte er es aber sicherlich und ihm blieb auch nichts anderes über, als sein bisheriges Leben zu überdenken und das künftige zu planen. Wenn ihm die Kasse mit Jahresende den Vertrag kündigte, bis dahin war er in Krankenstand und bezog Reha-Geld, würde ihm nichts überbleiben, als in seine ausgebaute Dachwohnung, die Anna längst verlassen hatte, zurückzukehren und sein Leben neu zu organisieren. Wie sollte er das tun? Wie sollte das geschehen, wenn ihn beide Annen verlassen hatten? Seine Mutter vor fast drei Jahren, seine Freundin, die ehrgeizige Anästhesistin mit der er fast in das verflixte siebente Jahr hineingelebt, wenn ihn die Psychose nicht überfallen und in den Untergrund des Orkus befördert hätte, vor kurzem. Es waren drei verflixte Jahre und die Hölle gewesen, durch die er gegangen und die ihm seinen Kassenvertrag gekostet hatten. Trotzdem wollte er sich nicht in Pension begeben. Wollte das genausowenig, wie seine Burn-Out-Patienten, denen er noch vor zwei Jahren oder waren schon drei, gut zugeredet hatte, auf sich zu schauen und ihr Leben zu verändern. Er wollte es nicht. Wußte aber genausowenig, was er stattdessen beginnen sollte? Nicht auf Reisen gehen und auch nicht Rosen züchten oder Briefmarken sammeln. Dazu war er mit seinen knapp fünfundvierzig Jahren viel zu jung und war auch erst zehn oder fünfzehn Jahre berufstätig gewesen. Es waren fünfzehn, seit er den Kassenvertrag unterschrieben hatte und deshalb viel zu früh für einen Pensionsantritt. Auch wenn er immer noch orientierungslos durch die Straßen taumelte, als ob er betrunken wäre, obwohl er keinen einzigen Schluck zu sich genommen hatte. Es war auch viel zu früh dazu. Das stimmte nicht. Es war halb fünf am Nachmittag. Um drei hatte er seinen Termin bei der Ärztekammer gehabt. Vielleicht eine halbe Stunde lang mit dem Funktionär gesprochen und irrte infolgedessen nun schon eine Stunde orientierungslos herum. War von der Neubaugasse weit entfernt. Mußte sich, wie ihm einfiel, auf der Wieden, im vierten Wiener Gemeindebezirk, also in einer nicht so vornehmen Gegend, wie die, in der er die letzten sieben Jahre mit seiner Freundin Anna, der Anästhesistin, gelebt hatte, befinden und stand nun vor der Aufgabe sein Leben zu verändern. Obwohl er das nicht wollte, keinen Bock darauf hatte, ganz im Gegenteil. Vor ihm lag ein Cafe. Ein schäbiges kleines Kabuff mit dem Namen „Harrys Nachtcafe”, was deshalb witzig war, da es, obwohl erst halb fünf, schon geöffnet hatte und so fiel ihm in seiner Orientierungslosigkeit nichts anderes ein, als es zu betreten. Denn wenn er schon die letzte Stunde die Straßen entlanggetorkelt war, ohne einen Schluck Alkohol zu trinken, würde er sich jetzt an die Bar setzen und ein Achtel bestellen. Ein Achtel Rotwein trinken, um seine Fassung wiederzugewinnen und vielleicht mehr oder weniger schnell herauszufinden, ob er dem Ärztekammerkollegen eine Freude machen und seinen Pensionsantrag stellen oder das verweigern sollte?

„Nimm Haltung an, Uli und denk darüber nach!”, würde seine Mutter Anna, wenn sie das noch könnte, mahnen und seine Freundin Anna, die Anästhesistin, würde ihn spöttisch mustern und „Versuch es!”, zu ihm sagen. Was sie aber nicht konnte, denn sie war nicht anwesend. Stand sicher im grünen Kittel im OP, statt um dreiviertel fünf in einem Nachtcafe, das wohl einem Harry gehörte, aber zu dieser frühen Zeit ziemlich leer und unbevölkert war. Statt der Anästhesistin Anna im grünen Kittel und blauen Augen, stand ein junges Mädchen mit einem schwarzen Rollkragenpullover, das eine weiße Schürze über ihre Jeans gebunden hatte, hinter der Theke und sah ihn erwartungsvoll an.

„Was darf es sein?”, hörte er es mit wohlklingender Stimme fragen. Weil ihm nichts anderes einfiel, bestellte er ein Glas Zweigelt und sah sich in dem Cafe um, das wirklich, da hatte er sich nicht geirrt, so schäbig aussah, wie es der Name vermuten ließ. Nur das junge Mädchen passte nicht hinein. Das sah eigentlich sehr extravagant aus. So schick, wie es seine Freundin Anna und auch die Mutter immer gewesen waren. Beide waren elegante Frauen. Das junge Mädchen, das ihm das gewünschte Glas zuschob, war das auch und, als er sich umdrehte, sah er an einem Tischchen, eine andere Gästin sitzen. Eine Frau saß da, die ihn im ersten Augenblick sowohl an seine Mutter Anna, als auch an die Anästhesistin erinnerte, obwohl sie keinen grünen Kittel trug und auch kein graues Kostüm, wie es die Mutter in den letzten Jahren getan hatte. Die Frau, die wohl zwanzig Jahre älter als er und zwanzig Jahre jünger, als die Mutter war, trug einen plässierten altmodischen blauen Rock und eine rosa Rüschenbluse. Ihre Lippen waren rot geschminkt, obwohl ihr Mund, wie er erkannte, ziemlich zahnlos war. Sie saß an ihrem Tischchen, hielt ebenfalls ein Rotweinglas in der Hand und starrte ihn aufmerksam an. Er schaute zurück in dem Bemühen, sowohl seine Haltung, als auch seine Fassung, die er schon lange nicht mehr besaß, nicht zu verlieren, dachte nur „Weit ist es mit dir gekommen, Ulrich, wenn du dich um fünf am Nachmittag in einem sogenannten Nachtcafe mit einer extravaganten Kellnerin und einer vermutlich obdachlosen Sandlerin befindest und dir von ihr zuprosten läßt!”

Denn das tat die Frau mit dem stark geschminkten zahnlosen Mund tatsächlich. Sie hatte ihr Glas erhoben und mit lauter schriller Stimme „Willkommen im Club!”, gerufen und noch während er überlegte, wie sie das meinen könnte, hatte sie die Kellnerin angesehen, ihr ebenfalls zugeprostet und „Was meint das Fräulein No dazu? Er gehört doch zu uns, nicht wahr?”, das junge Mädchen mit dem schwarzen Rollkragenpulli und der weißen Bistroschürze gefragt.